FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 25. Jahrgang, 2. Halbjahr 2015

Alltag mit kognitiven Störungen. Ein Leben mit MS

Annette Kindlimann, Fachpsychologin für Gesundheitspsychologie, hat an der Universität Freiburg ihre Dissertation zu kognitiven Störungen bei MS-Betroffenen verfasst. In einem sechsteiligen Workshop mit acht MS-Betroffenen erfuhr sie von deren kognitiven Störungen und lernte die individuellen Strategien kennen, damit umzugehen. Sie schlug den Teilnehmenden vor, die Ergebnisse der Zusammenarbeit in einer Broschüre zu veröffentlichen. Die Teilnehmenden nahmen das gerne an. Sie lasen und kommentierten alle das Manuskript für die Broschüre mit dem Titel „Alltag mit kognitiven Störungen. Ein Leben mit MS“, die wir Ihnen hier vorstellen.

Die 67-seitige Broschüre ist nach Vorwort und Einleitung in vier Kapitel unterteilt:



Erstes Kapitel - Kognitive Störungen: Beispiele aus der Praxis

Im Kapitel I werden sechs Bereiche der kognitiven Störungen benannt und durch Zitate Betroffener mit Leben gefüllt. Dabei geht es um folgende Bereiche:


Die „verlangsamte Informationsverarbeitung“ wird unter anderem durch dieses Zitat illustriert:

"Ich brauche oft länger als meine Kinder, bis ich ihre Hausaufgaben verstehe. In meinem eigenen Tempo finde ich immer die Lösung. Aber damit bin ich viel zu langsam für meine Kinder. Sie fragen mich nur noch zur Not. Ich weiss nicht, was mit mir geschieht. Darüber habe ich noch mit niemandem gesprochen." (Historikerin, 40)

Bei den Schwierigkeiten mit der räumlichen Orientierung findet sich dieses Zitat:

"Manchmal stehe ich irgendwo und weiss nicht mehr, wo ich bin und warum ich hier bin. Als mir das zum ersten Mal geschah, bin ich vor Angst erstarrt. Ich habe mich danach für Wochen zu Hause verkrochen und viel geweint. Jetzt habe ich immer meine Agenda dabei. Die nehme ich in solchen Momenten hervor und lese nach, wohin ich unterwegs bin.“ (Kindergärtnerin, 41)

In der Zusammenfassung der Autorin zu diesem Kapitel finden sich diese Informationen:

Die sechs vorgestellten Bereiche sind bei MS-Betroffenen mit kognitiven Störungen am häufigsten beeinträchtigt. Daneben können Betroffene unter einer Vielzahl anderer Probleme leiden. Einzelne Betroffene haben beispielsweise Mühe mit Lesen oder mit demErkennen und Benennen von Gegenständen…

… Die Probleme zeigen sich bei jeder betroffenen Person anders und können sich mit der Zeit verändern.

MS-Betroffene mit den beschriebenen und ähnlichen Problemen merken sofort, dass etwas nicht mehr stimmt mit ihrem Denken….
… Betroffene beginnen, an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Viele schweigen und ziehen sich mehr und mehr zurück….

Betroffene und ihre Angehörigen wissen oft nicht, dass sie ihr Leid mit vielen teilen: Rund zwei Drittel der MS-Betroffenen leben mit kognitiven Störungen. Seit etwa 20 Jahren sammeln Forscher Wissen dazu.

Zweites Kapitel - MS und Kognition: Wissenschaftliche Fakten

Diese werden im zweiten Kapitel vorgestellt. Die Autorin Annette Kindlimann rät Leserinnen und Lesern, die eher am praktischen Umgang mit kognitiven Störungen interessiert sind, dieses Kapitel zu überspringen.

In diesem Kapitel werden vier Felder der Kognition besprochen, kognitive Störungen werden erläutert, ebenso die Wege zur Diagnose und Möglichkeiten der Therapie.

Besonders erhellend fand ich folgende Ausführungen zu den kognitiven Störungen:

Wichtig ist:


Die Ausführungen zur Therapie nehmen nur zwei Seiten der Broschüre ein, einfach weil es keine Standard-Medikamente gegen kognitive Störungen gibt. Schlafstörungen, Schmerzen, depressive Episoden können kognitive Störungen verstärken und sollten behandelt werden. Auch können Symptome eventuell durch Ergotherapie verbessert werden. Besonders wertvoll ist die Broschüre nach meiner Einschätzung jedoch durch das 22-seitige dritte Kapitel.

Drittes Kapitel - Kognitive Störungen: Erprobtes zum Umgang

Wenn die Medizin nicht weiter weiß, sind Hinweise und Tipps von ähnlich Betroffenen oft sehr hilfreich. Das wissen fast alle, die schon länger mit einer chronischen Erkrankung leben. So beginnt Kindlimann dieses Kapitel mit folgendem Zitat:

"Es ist nicht so, dass ich ein fixes Strategien-Set einüben kann. Meine Störungen sind nicht immer gleich und die Situationen, in denen sie auftauchen, auch nicht. Ich stell mir vor, dass ich mir nach und nach einen Rucksack mit ganz unterschiedlichen Strategien fülle. Je nach Situation packe ich eine passende Strategie aus und wende sie an. Unterdessen habe ich schon eine schöne Sammlung beisammen. Entsprechend sicherer bin ich im Vergleich zum letzten Jahr unterwegs."

Dieses Kapitel ist wiederum in fünf Abschnitte unterteilt:


Hier einige Beispiele dazu, wie Betroffene sich ihr Leben mit den Störungen erleichtern:

"Ich trage immer eine Schildmütze. Die Leute meinen, das sei mein etwas schrulliges Markenzeichen. Das ist mir recht. Sie müssen nicht wissen, dass ich auf das Schild angewiesen bin. Es schützt nämlich mein Blickfeld. Ich kann damit konzentriert schauen, ohne ständig von Lichtspielen oder sich bewegenden Objekten rund um mich herum abgelenkt zu sein."

"Ich habe mir für das Einkaufen eine Muster-Liste gemacht und kopiert. Die gehe ich vor dem Einkaufen durch und kreuze an, was ich brauche. Mich auf eine vorgegebene Auswahl zu konzentrieren fällt mir einfacher, als jedes Mal eine ganz neue Liste aufzustellen."

"Wenn ich eine Straßenkarte brauche, markiere ich meinen Weg farbig. Zudem schreibe ich mir wichtige Abzweigungen heraus. Damit weiss ich schneller und sicherer, nach welchen Schildern oder Gebäuden ich suchen muss."

Im Abschnitt "Übungen" wird auf die Bedeutung regelmäßiger Bewegung und eines guten Muskeltonus für die kognitiven Funktionen hingewiesen. Auch wenn die Mechanismen im Einzelnen noch nicht erforscht sind, ist der grundsätzliche Zusammenhang erwiesen.

Viertes Kapitel - Weitere Informationen: MS, Fatigue, Gefühle, Lesetipps

In diesem abschließenden Kapitel hat Annette Kindlimann wertvolle Informationen zu den aufgeführten Themen zusammengestellt. Mit Bedauern habe ich jedoch festgestellt, dass zwar die Links zur deutschen und schweizerischen MS-Gesellschaft aufgelistet sind, nicht aber zur Stiftung LEBENSNERV.

Ein persönliches Resümee

Natürlich weiß ich als MS-Betroffene schon lange, dass es kognitive Störungen bei dieser Erkrankung gibt. Als wir als Stiftung vor vielen Jahren einen „Destruktivin-Preis“ für die verheerendste Äußerung einer Ärztin oder eines Arztes ausgeschrieben hatten, erschreckte mich der Vorschlag "MS ohne kognitive Störungen gibt es nicht" besonders und ich war froh, dass eine solche Äußerung bei meiner eigenen – auch nicht gerade sensiblen – Diagnosemitteilung nicht gefallen war.

Erst bei der Beschäftigung mit der vorliegenden Broschüre von Annette Kindlimann ist mir bewusst geworden, dass diese Thematik bislang für mich immer mit einem gewissen Tabu belegt war, was sicherlich auch mit der defizitorientierten, tendenziell abwertenden Darstellung kognitiver Störungen in der Fachliteratur zusammenhängt.

Kindlimann ist es für meine Begriffe hervorragend gelungen, ein wertschätzendes Werk zu verfassen, ohne die Probleme zu beschönigen. Ich bin froh und der Autorin dankbar, dass mir mit dieser Broschüre einen offeneren, selbstverständlicheren Umgang mit diesem MS-Symptom ermöglicht.

Die Lektüre möchte ich allen Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten empfehlen.

Bezug

Die Broschüre ist unter folgendem Link herunterzuladen:

http://patientenedukation.de/sites/default/files/downloads/2015/kognitionsbroschuere_kindlimann.pdf

Leider ist sie in Deutschland nicht als Printversion zu beziehen. Als Service der Stiftung LEBENSNERV bieten wir aber an, sie bei Interesse und Bedarf auszudrucken und Ihnen zuzusenden. Si





voriger Artikel ** nächster Artikel
FP-Gesamtübersicht
Startseite