Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/98

Ärztliche Anamnese

Teil 1 von 2 Teilen

Auszüge aus dem Festvortrag von Wilhelm Rimpau

Kranksein ist eine notwendige Form unseres Lebens. Als Pflegende, Therapeuten und Ärzte nehmen wir Anteil am Prozeß des individuellen Lebens unter der notwendigen Bedingung des Krankseins. Krankheit ist Krise im Leben eines Menschen mit biographischen Bedingungen und Folgen. Es gilt Leben unter besonderen Umständen zu gestalten. Die Anamnese ist der Einstieg in diese Gestaltung. (...)

Krankheiten bedeuten Krisen im Leben eines Menschen; oft sind sie Ausdruck einer Krise. Dies bedeutet zunächst einmal Wendepunkt im Leben oder Aufforderung, das Leben in dieser oder jener Hinsicht zu ändern. Das Pathische ist ein Teil unserer Existenz: das Leben ist nicht nur ein Vorgang sondern wird auch erlitten. Die ontische und pathische Seite des Lebens sind praktisch die zwei Seiten einer Medaille. Leben wird nicht nur gestaltet sondern auch erlitten. Aktive und passive Momente stehen in gegenseitigem Wechselspiel, mal überwiegt das Ontische, mal das Pathische. Im Krankheitsfall überwiegen pathische Kräfte. Viktor von Weizsäcker hat 1919 fünf Kategorien des Lebens benannt, die wir in der Anamnese entwickeln können: bei der Untersuchung eines Ereignisses, eines Symptoms oder einer Krise läßt sich fragen, ob dieser Mensch damit etwas will, kann, darf, muß oder soll – oder auch das Gegenteil von alledem. Beim Zuhören dessen, was der Kranke erzählt, bewährt es sich, bei jedem einzelnen berichteten Ereignis dieses „pathische Pentagramm“ anzuwenden. Damit lassen sich dynamische Faktoren, also die Kräfte abschätzen, die zu diesem oder jenem Ereignis oder Symptom geführt haben. Das Anamnesegespräch kann auch versiegen, Arzt und Kranker wissen nichts mehr zu fragen oder zu sagen. Es können auch Widersprüche auftreten oder es fällt die Auswahl dessen auf, worüber der Kranke berichtet oder worüber er nicht zu sprechen wagt. Hier lohnt es sich nach sogenannten „Lötstellen“ zu forschen: im menschlichen Leben gibt es immer bestimmte Konstellationen, die das Risiko zu Konflikten in sich bergen und zu Krisen werden können. Das vorhin gezeigte Diagramm der kränkenden und heilenden Kräfte in allen Lebensbereichen kennzeichnet auch solche Bezüge. So sind z.B. Pubertät, Menopause und Berentung latente Konfliktfelder allein aus dem Lebenslauf heraus. Typische und konkrete Zusammenhänge, die Menschen immer wieder in ähnlicher Weise verstrickt sein lassen, werden deutlich, wenn Themen angesprochen werden, die die Familie, Partnerschaft, Geschlechtlichkeit, Beruf, Geldangelegenheiten, Politik und Religion berühren.

Der jüngst verstorbene Arzt Aaron Antonowsky hat in seiner Kritik am bio-psycho-sozialen Modell, welches Sie z.B. mit Thure von Uexküll verbinden, gemeint, daß mit gesund und krank ein künstlicher Dualismus, wie der von Leib und Seele (Descartes) aufrechterhalten wird. Danach wird Gesundheit als Normalzustand und Krankheit als Abweichung davon beschrieben. Auch die Weltgesundheitsorganisation definiert Krankheit als Abwesenheit von Gesundheit. Antonowsky sieht fließende Übergänge von gesund und krank und fragt mit seinem Salutogenesekonzept nach den Kräften im menschlichen Leben, die dieses trotz Gefährdungen gesund erhalten, wie die Pathogenese die Mechanismen aufdeckt, die zur Krankheit führen. In der Anamnese lassen sich also auch positive Merkmale aufdecken, die über längere Wegstrecken des Lebens jemanden gesund erhalten haben, wenn diejenigen negativ genannt werden sollen, die zur Krankheit führen. Es lohnt sich also auch im Krankheitsfalle nach solchen individuellen gesunderhaltenden Faktoren Ausschau zu halten, die Motivation und Anknüpfungspunkte für die Therapieplanung bedeuten können.

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