Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/98

»Alles gleich gültig und nichts gleichgültig«
Erzählen von Krankheit und Behinderung

Teil 1 von 7 Teilen

von Gabriele Lucius-Hoene

Übersicht

Teil 1 Zusammenfassung
Teil 1-6 Hauptteil
Teil 7 Literatur
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Zusammenfassung

Der Artikel plädiert für einen autobiographisch-narrativen Zugang zur subjektiven Erfahrung von Krankheit und Behinderung in Forschung und Lehre. Auf dem erkenntnis-theoretischen Hintergrund der »discursive psychology« wird hierbei das Erzählen in einem sozialen Kontext als sprachlich-interaktive Praxis der Identitätsherstellung und aktuellen Bewältigung von Lebenserfahrung aufgefaßt. Der Beitrag eines solchen Ansatzes für die Forschung zu subjektiver Krankheitserfahrung und Bewältigung von Krankheit und Behinderung sowie seine therapeutischen und didaktischen Konsequenzen für Rehabilitations- und Medizinpsychologie werden erörtert.

Hauptteil des Artikels

„Aber was ist denn ein Leben, wenn man es sich nicht erzählt?« fragt der französische Philosoph und Psychoanalytiker Jean-Bertrand Pontalis (1989, 160) in seiner Autobiographie. Dies ist natürlich eine rhetorisch gemeinte Frage, mit der er die Bedeutung des Erzählens für das Leben betonen will. Er fährt selbst fort: »und, wir wissen es doch, für ein einziges Leben gibt es hundert mögliche Biographien«. Ich möchte diese Frage nicht rhetorisch auffassen und ihr nachgehen: Welche Bedeutung und Funktion hat das Erzählen im Leben? Mit meinen Überlegungen möchte ich für das Erzählen als Erkenntnisgegenstand und als Methode in der Psychologie plädieren.

Es geht also um autobiographisches Erzählen. Autobiographisches Erzählen ist durch zwei Bestimmungsstücke gekennzeichnet: es bezieht sich zum einen auf Selbsterlebtes, auf die eigene Biographie des Erzählers, zum anderen handelt es sich um »Erzählen«, also um eine ganz bestimmte Form sprachlicher Vermittlung. Schauen wir uns beide Aspekte etwas genauer an.

Beim ersten Aspekt, bei der Frage nach der »Biographie«, haben wir keine Beweisnot, ihre Bedeutung für unser Fach aufzuzeigen. In vielen Zweigen der Psychologie können wir auf eine lange Tradition der biographischen Betrachtungsweise und Methode verweisen. Namen wie Bühler, Freud, Jaspers oder Erikson stehen für die Analyse von Lebensgeschichten in ihrer Bedeutung für psychische Phänomene und Störungen. Auch bei körperlicher Krankheit und Behinderung ist für uns heute die Beachtung biographischer Zusammenhänge für Theoriebildung und therapeutische Praxis eine Selbstverständlichkeit.

All diesen Ansätzen ist gemeinsam, daß sie die im autobiographischen Erzählen vermittelten Bestimmungsstücke gewissermaßen als biographische Daten, als Information betrachten, um sie dann ihrer je eigenen übergreifenden Theorie eines Zusammenhangs zwischen Biographie und Krankheit, Biographie und Persönlichkeit, Biographie und soziokulturellem Umfeld, etc. unterzuordnen. Dem Erzählen selbst kommt hier keine eigenständige Rolle zu als einem Phänomen, das für sich betrachtet wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient.

Wenden wir uns nun diesem zweiten Aspekt zu. Erzählen ist eine allgegenwärtige Alltagshandlung, mit der wir unsere Erlebnisse austauschen und aufzeigen, rechtfertigen und begründen, wie wir die Welt auffassen und selbst aufgefaßt werden wollen. Muster des Erzählens sind in unserem Kulturraum fest verankert, werden in der Sozialisation eingeübt und bieten Spielräume der Selbstdarstellung, die wir zu nutzen gelernt haben. Kinder werden durch Geschichten in die familiäre und in die weitere Sozialwelt eingeführt. Für den Phänomenologen Schapp (1976) ist der Mensch in all seinen Lebensbezügen in Geschichten verstrickt, und diese Geschichten stehen für den Menschen selbst. Der Philosoph Odo Marquard (1981) bringt es auf den Punkt: »Narrare necesse est«, erzählen tut not.

So finden wir in den letzten 10 bis 20 Jahren auch einen sprunghaften Anstieg der Befassung mit Erzählen, ja sogar die Tendenz zur Formierung einer fächerübergreifenden Disziplin, der Narratologie. Philosophie, Geschichtswissenschaft und Theologie, Ethnologie und Soziologie, Literatur- und Sprachwissenschaft, Psychoanalyse und Pädagogik tragen zu unserem Wissen über erkenntnis- und gegenstandstheoretische Aspekte des Erzählens bei und weisen ihm den Rang einer grundlegenden Verfahrensweise des Menschen zu, Erfahrungen und Identitäten auszubilden und sich als Sozialwesen zu verorten (Angehrn 1985, Boothe 1994, Kerby 1991, Polkinghorne 1988, Ricoeur 1988, 1991; White 1990). Narrativität wird als fundamentales Ordnungsprinzip menschlichen Erlebens und Handelns begriffen. Narrativität ist »en vogue«.

Umso mehr erstaunt es, wenn wir beim Blick in die Psychologie feststellen müssen, daß das Phänomen Erzählen in unserem Fach bisher nur marginal Beachtung gefunden hat. Vielleicht ist es gerade diese Eigenschaft des alltäglichen, trivialen, was das Erzählen als psychologisch interessantes Phänomen kaum auftauchen läßt.

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