Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99

Erzählen von Krankheit und Behinderung II

Biographieforschung in Freiburg

An dieser Stelle freue ich mich, Ihnen Christian Rösler vorstellen zu können, der sich in seiner Arbeit intensiv mit subjektiven Theorien beschäftigt. Er ist als Diplompsychologe Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg und steht dort in Verbindung mit Gabriele Lucius-Hoene, deren Artikel »Erzählen von Krankheit und Behinderung« Sie in der letzten Ausgabe unserer Zeitschrift lesen konnten. Bis Christian Rösler Ihnen in der kommenden Ausgabe von FORUM PSYCHOSOMATIK erste Ergebnisse seiner aktuellen Forschungstätigkeit präsentieren wird, sei jetzt schon einmal deren inhaltliche Orientierung skizziert:

Im Rahmen seiner Doktorarbeit beschäftigt sich Christian Rösler mit den Lebensgeschichten chronisch kranker und behinderter Menschen, darunter auch eine Gruppe von MS-Betroffenen, die sie in Interviews über sich selbst schildern. Erzählungen zur eigenen Biographie spiegeln das Bild wider, das die Betroffenen über sich selbst haben und auch nach außen präsentieren: Ihre Identität. Man geht davon aus, daß die so dargestellte Identität eines Menschen das Produkt eines aktiven Prozesses ist, der sich sowohl innerhalb seiner unmittelbaren sozialen Beziehungen entwickelt als auch durch kulturelle Einflüsse bedingt wird. So zeigte beispielsweise in einer Studie zu Interviews mit Studierenden, daß sich zentrale Aspekte aus deren Lieblingsgeschichten als Kinder noch in ihrem heutigen Leben wiederfinden lassen.

Mit dem Einschnitt, den eine chronische Erkrankung oder eine Behinderung mit sich bringt, gerät für die Betroffenen die bis dahin vertretene Identität ins Wanken: Die eigene Sicht auf sich selbst muß überdacht und neu gestaltet werden. Das besondere an dieser Situation ist vor allem, eine Brücke zwischen dem »Vorher« und dem »Jetzt« zu schlagen. Sie soll die eingetretene Abweichung von der bisherigen Erwartung über den Verlauf des eigenen Lebens stimmig und nachvollziehbar machen - zum einen für sich selbst, zum anderen aber auch in der Erzählung für andere.

Wenn jemand nach leidvollen Erfahrungen über seinen beziehungsweise ihren Lebenslauf berichtet, kann dies für die einzelnen die Funktion haben, diese Erlebnisse überhaupt erst durch das Erzählen als etwas für sich Eigenes anzunehmen. Die Bedingungen, die dabei eine Rolle spielen, sind in Christian Röslers Arbeit von zentralem Interesse.

Zunächst einmal stehen natürlich die Fragen im Vordergrund, zu welchen Identitäten die befragten Betroffenen in ihren Erzählungen gelangen und welche Bedeutungen sie ihren Erfahrungen mit ihrer Krankheit beziehungsweise Behinderung darin geben. Dann wird untersucht, inwieweit die einzelnen Betroffenen ihre biographischen Erzählungen auch unter Zuhilfenahme von Informationen aus Medien, Patienten-/ Selbsthilfegruppen oder anderen fremden Quellen entwerfen.

Auf einer übergeordneten Ebene wird gefragt, welchen allgemeinen Charakter, welche Besonderheit die Identitätsbildung bei Betroffenen von chronischen Krankheiten/Behinderungen hat. Dazu gehört auch die Frage, ob es bei der Konstruktion von Sinn und Plausibilität Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten zwischen den Strategien von Betroffenen jeweils unterschiedlicher Erkrankungen gibt. Haben beispielsweise MS-Betroffene eine andere Art der Bewältigung ihrer Lebensgeschichte als Menschen mit anderen Erkrankungen?

Wir können gespannt sein auf die Darstellung einer Erzählung von einer oder einem befragten MS-Betroffenen, die uns Christian Rösler für den kommenden Herbst versprochen hat.

KH

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