Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 3 (letzter Teil): "Therapie von drei MS-Patentinnen im Rahmen einer psychosomatischen Klinik" von Dieter Olbrich

Die abschließende Bewertung nach zweimonatiger Therapie beinhaltete bei allen Patientinnen eine verbesserte Körperwahrnehmung und Akzeptanz. Damit einher ging (unterschiedlich ausgeprägt) auch eine bessere Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und ein realistischeres Umgehen mit den eigenen Rollen. Im Falle der Patientin 2 bedeutete das, dass sie sich nicht mehr ständig bemühte, über eine idealisierte Mutterrolle den defizitären Vater zu ersetzen. Sämtliche Patientinnen hielten in der Folgezeit über Kartengrüße und Rückmeldungen losen Kontakt zu ihren Therapeuten beispielsweise zur Klinik. In allen drei Fällen hatte die Behandlung auch reale Konsequenzen, am ausgeprägtesten im Fall der Patientin 2, die arbeitsunfähig aus der stationären Behandlung ging, da sie ihrer Tätigkeit, wie sie nun selbst sah, nicht gewachsen war und eine entsprechende Arbeitsplatzumbesetzung anstrebte. Dies war für sie zum Aufnahmezeitpunkt noch völlig undenkbar gewesen. Ähnliche Konsequenzen, wenn auch nicht so weitgehend, zogen auch die beiden anderen Patientinnen, auch dies ist ein Ausdruck der besseren Wahrnehmung eigener Grenzen.

Alle drei Patientinnen haben eine ambulante psychotherapeutische Behandlung aufgenommen, nach den letzten Informationen jeweils als Einzeltherapie.

Zurück nun zur anfangs gestellten Frage im Behandlungsteam, ob sich MS-Patienten von anderen Patienten unserer Klinik unterschieden und dem spontanen „Ja“ als Antwort. Zusammengefasst meinen wir, dass folgende Punkte bei dieser Differenzierung eine Rolle spielen könnten:

  1. Sämtliche Patientinnen waren ausgesprochen therapiemotiviert, neigten jedoch auch in dieser Hinsicht wie bei vielen Dingen des alltäglichen Lebens dazu, sich leicht zu überlasten und die eigenen Grenzen nicht zu erkennen.
  2. Nur wenige Patienten zeigten ein so ausgeprägtes negatives Selbstbild, verbunden mit Selbstbestrafungstendenzen und einer konflikthaften weiblichen Identifikation wie diese drei. Eine Mitarbeiterin fühlte sich an essgestörte, anorektische (magersüchtige, d.Red.) Patientinnen erinnert, ein anderer Mitarbeiter erlebte ähnliche Gegenübertragungsreaktionen wie bei Krebspatienten.
  3. Zentraler Punkt schien uns bei allen drei Patientinnen die Vermeidung und prompte Sanktion allein schon aggressiver Phantasien, wobei die körperliche Symptomatik in ihrem Auftreten dann fast an den Mechanismus des Ungeschehenmachens als Wendung gegen das Selbst erinnert.
  4. Bemerkenswert waren die ausgeprägten Vaterkonflikte, wobei die Erstmanifestation bei allen drei Patientinnen auch im Zusammenhang mit Trennungs- und Konfliktsituationen mit männlichen Bezugspersonen auftraten.

Symbolhaft zeigt der Traum einer Patientin während der stationären Therapie einige der genannten Aspekte: Im Traumbild sieht sie sich vor ihrem Elternhaus stehen, es besteht ein gewisser Abstand. Sie kann nicht hineingehen, sie kann aber auch nicht weggehen. In diesem Stillstand spürt sie plötzlich, dass sie abhebt, dass sich ihr Körper deformiert, und sie wacht mit Unwohlsein auf.

Aus dem Gesagten ergeben sich für uns folgende Überlegungen zur psychotherapeutischen Behandlung von MS-Patienten:
Wir möchten sowohl den Betroffenen als auch insbesondere den betreuenden Kolleginnen und Kollegen vor Ort mehr Mut machen, diesen Behandlungsweg als einen möglichen unter anderen zu wählen. Es gibt aus unserer Sicht keine Kontraindikation, die sich aus der Erkrankung an sich ergibt, auch wenn es durchaus im Verlauf der Behandlung zu schubähnlichen Verschlechterungen oder möglicherweise auch zu Schüben kommen kann. Entscheidend ist die Art des gemeinsamen Umgehens damit.

Wenn MS-Patienten psychotherapeutisch behandelt werden, sollte eine neurologische Betreuung sichergestellt sein, wobei diese am besten im Rahmen des Behandlungsteams vorhanden sein sollte. Das schafft Sicherheit für die Patienten und das Behandlungsteam und die Möglichkeit, auch Krisen gemeinsam zu tragen. Körper- und leibtherapeutische Verfahren in der Behandlung von MS-Patienten sowie der Einsatz kreativer Medien (Gestaltung, Malen innerer Bilder) sind aus unserer Sicht rein verbalen Interventionen vorzuziehen.

Bei den vorgestellten Patientinnen handelt es sich zweifellos um eine selektierte Klientel, so dass daraus keine allgemeinen Schlüsse gezogen werden sollten.

(Auszug aus dem gleichnamigen Vortrag, gehalten auf dem Workshop „Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie bei multipler Sklerose“ am 12.06.1993 in Herdecke)

(Erstveröffentlichung in Rundbrief Nr. 3, Sommer 1993.)

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