Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00 |
Teil 4 (letzter Teil): "Erzählen von Krankheit und Behinderung als Identitätssuche und Bewältigung" von Dr. Gabriele Lucius-Hoene
Wenn hier das Erzählen als sinnvoll und wichtig beschworen wird,
ist aber ebenso einzuwenden, dass Geschichten nicht per se gut sind. Genauso
können sie uns durch ihre scheinbare Plausibilität einengen, auf eine
einzige Version der Welt reduzieren und festlegen wie die Nadel in der kaputten
Schallplatte, die immer wieder in dieselbe Rille rutscht. Was macht
Erzählungen heilsam, wann steckt in ihnen therapeutisches Potential, wann
können wir von "narrativer Bewältigung" sprechen, wie sie oft als
Folge des Erzählens von Traumen behauptet wird? Ich möchte ein paar
Thesen hierzu aufstellen.
Zum einen müssen die Erzählungen
für Zukunftsmöglichkeiten offen sein. Wie ich mich heute
erzähle, bahnt schon an, wie ich mich morgen sehen möchte. Unsere
Erzählungen wie unsere Zeiterfahrungen umfassen nicht nur Vergangenheit
und Gegenwart, sondern liefern die Optionen und die Ausgangsbasis für die
Fortschreibung unseres Lebens in die Zukunft, für das, was wir auch morgen
werden, tun, erfahren können.
Zum zweiten sollten sie
möglichst vielfältig sein. So gibt es für unsere Erfahrungen
praktisch nie nur die eine Geschichte, die kanonische Form, auf die wir uns
festlegen müssen, sondern immer auch andere Möglichkeiten, andere
Ebenen, vielfältige Wahrheiten, die Dinge zu betrachten. Was unter einer
Perspektive eine Katastrophe ist, kann unter einer anderen durchaus
nützlich sein. So berichtet die Lebensgeschichte unserer oben zitierten
Erzählerin auch nicht nur von Behinderung und Defizit, sondern auch von
Selbsterkenntnis, Emanzipation und neuen Wertfindungen. Und es gibt nicht nur
das große Lebensthema von Krankheit und Verlust, sondern auch die vielen
kleinen Episoden und Erfahrungen, die alle ihren eigenen Wert, ihre eigene
Ästhetik und oft sogar ihre eigene Komik haben - wie uns das höchst
eindrucksvoll der französische Journalist Jean-Dominique
Bauby in seinem Buch
vorführt, das er vollständig gelähmt in seinem Locked-in-Syndrom
mithilfe des Lidschlags und einem Alphabet diktierte.
Drittens sollten
sie anschlussfähig an andere Erzählungen sein, das heißt sowohl
die eigenen Erfahrungsmöglichkeiten durch die Geschichten anderer
erweitern und anreichern, als auch für die Erzählungen anderer
Menschen nutzbar sein. Hier zeigt sich die Dialektik zwischen individueller und
gemeinsamer Sinnstiftung: Indem wir unsere ureigenste Geschichte mit uns selbst
als Ich-Erzählerin gestalten, können wir uns über uns selbst
hinaus auch austauschen, Gemeinsamkeiten finden und zur Wir-Erzählung
gelangen. Oder mit den Worten von Arthur Frank: Die Geschichte, die ich erzähle, ist
meine eigene, aber Leser können ihr Leben an die Stelle meines Lebens
setzen und das, was ich geschrieben habe, so verändern, dass es ihrer
eigenen Situation entspricht. Auch hierfür gibt es ein eindrucksvolles
literarisches Beispiel: die amerikanische Dichterin Nancy Mairs, die in ihren Essays
und Erzählungen minutiös und realistisch von ihrem Leben mit
Multipler Sklerose berichtet, dies aber auf eine Art und Weise tut, dass ihre
Erfahrungen und Erkenntnisse über ihre spezifischen Leiden und Freuden
hinaus für jeden Menschen spannend und erhellend sind.
Resümierend könnte man also sagen, dass es nützlich und heilsam
ist, sich mit seinen eigenen Geschichten kritisch auseinander zu setzen und sie
flexibel zu halten: Könnte ich diese Erfahrung auch anders erzählen?
Was für eine Art von Geschichte erzähle ich da - eine Helden-, eine
Kampf-, eine Opfergeschichte? Was drücken meine Metaphern aus, die ich
benutze, was sagen sie mir über mein Verständnis des Geschehens? So
kann eine distanzierte Betrachtung der eigenen Erzählaktivitäten zu
mehr Selbsterkenntnis in der Auseinandersetzung mit der Krankheit
führen.
Und wünschenswert wäre es letztlich, wenn auch die
Erzählungen von medizinischen Experten und Betroffenen wieder mehr
aneinander anknüpfen, sich wechselseitig interpretieren und ernst nehmen
würden. Hier sehe ich in der Arbeit von Frau Schubert, die wir heute
ehren, einen sehr hilfreichen Anknüpfungspunkt: Laienvorstellungen und
subjektive Krankheitstheorien nicht als defizitär, naiv und uniformiert
abzutun, sondern sie als sinnstiftende Gestaltungen der eigenen
lebensgeschichtlichen Erfahrung und Bewältigungsansätze zu
respektieren und als Verständigungsbasis zu nutzen.
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