Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00 |
Teil 3: "Erzählen von Krankheit und Behinderung als Identitätssuche und Bewältigung" von Dr. Gabriele Lucius-Hoene
Die vielen kleinen Alltagserzählungen zu unseren Alltagserfahrungen
verbinden, kommentieren, ergänzen einander und verweben sich
schließlich zu dem, was wir unsere Lebensgeschichte nennen und aus der
sich die dominierenden Motive und Themen, in denen wir unser Leben gestalten
und in die wir unsere Erfahrung gießen, herausbilden. So entsteht unsere
"narrative Identität": die Art und Weise, wie wir uns in unseren
Erzählungen als Personen herstellen, in Szene setzen und erfahren. Unsere
Kultur unterstützt uns dabei, indem sie uns historisch gebildete und in
zahlreichen Diskursen bearbeitete Vorlagen liefert: Medien und
Interessengemeinschaften, Bildungsinstitute und weltanschauliche Gruppierungen
versorgen uns mit Folien, an denen wir die Geschichten, die unser Leben
ausmachen, orientieren können und von denen wir uns inspirieren lassen.
Auch, oder ganz besonders die Erfahrungen von Krankheit und von
Behindertsein schaffen sich ihre Geschichten. Sie bedürfen der
erzählerischen Bearbeitung, mit der ihr Stellenwert in unserem Leben und
ihre Bedeutung für unsere Identität ausgelotet werden. Es sind
Erfahrungen vom Einbruch des Unerwarteten, Unerwünschten, von der
Bedrohung unserer Körperlichkeit und unseres bisherigen Lebensplans, von
Grenzen, Schmerz und Verlust, Nicht-mehr-können und Versagen, und ebenso
auch von Wiedererlangen und Überwinden, Krise und Heilung, Widerstand und
Einverständnis, kurzum: von allen urmenschlichen Widerfahrnissen,
Verzagtheiten und Tugenden angesichts des Schicksals, mit dem sich so wenig
handeln lässt - sie sind also im Grunde genau der Stoff, aus dem Literatur
und Kunst schöpfen, um die menschliche Situation und Befindlichkeit
auszuleuchten und vom Einzelschicksal zur conditio humana zu transzendieren.
So ist es nicht erstaunlich, dass in der oben erwähnten
Neuentdeckung des Erzählens die Krankheitsgeschichte, das Erzählen
der Betroffenen von veränderter, schmerzhafter und mühevoller
Körperlichkeit und von dem, was Hilfe bringt oder was als Hilfe versagt,
einen großen thematischen Schwerpunkt bildet. Mit der postmodernen Wende
weg von den großen, allgemeingültigen Wahrheiten zu den
individuellen Lebenswelten von Menschen haben diese Erzählungen von der
Erfahrung und Bedeutung des Krankseins einen wichtigen Stellenwert für die
Erforschung psychosozialer Aspekte in der Medizin bekommen. Durch kaum ein
anderes Medium lässt sich besser nachvollziehen, wie die innere Seite der
Krankheitserfahrung aussieht, und mit welchen Ressourcen die Betroffenen selbst
jenseits professioneller Hilfestellungen damit umgehen. In den letzten Jahren
sind eine Fülle von Krankheitsgeschichten auf dem Buchmarkt erschienen, in
denen das private Leiden seine öffentliche Stimme gewonnen hat und aus dem
Schatten des Verwaltet- und Kolonialisiertwerdens durch die medizinische
Wissenschaft heraustritt.
Denn Letztere will diese oft kritischen und
selbstbewussten Geschichten nicht immer hören. Die Medizin tut sich aus
vielen Gründen schwer mit solchen Erzählungen von der Befindlichkeit
und Erfahrungswelt der Betroffenen. Erzählungen sind im Repertoire
medizinischer Professionalität nicht vorgesehen. Im Klinikalltag, beim
konkreten Patienten, der sie dem Therapeuten nahe bringen will, sind sie eher
hinderlich, weil zeitaufwendig und kaum überführbar in die
medizinische Fachterminologie. Sie bringen wenig in den Denkkategorien von
Diagnostik, Pathogenese und Therapie, und wie sich in sprachwissenschaftlichen
Untersuchungen aufzeigen ließ, sind ärztliche
Gesprächstechniken denn auch eher daraufhin angelegt,
Patientenerzählungen zu unterbinden. Vielleicht weckt auch gerade die oben
beschriebene Macht der Erzählung, den Hörer emotional in den Sog der
Erfahrungen hineinzuziehen, Ängste und Abwehr als Selbstschutz. Zudem
erzählt die Medizin ihre eigenen Geschichten von dem, was sich in der
Krankheit abspielt, von Autoimmunprozessen und Liquorfraktionen,
Entzündungshemmern und genetischen Faktoren. Aber je technisch
spezialisierter und komplexer diese Geschichten im Lauf des medizinischen
Fortschritts geworden sind, desto mehr haben sie sich von den
Patientenerfahrungsgeschichten entfernt, und desto mehr müssen sich die
Patienten den wissenschaftlichen Übergeschichten oder master texts
unterordnen, wollen sie an den medizinischen Leistungen teilhaben und als
Patienten ernst genommen werden.
Umso wichtiger ist es, diesen
eigenen Krankheitsgeschichten Raum zu verschaffen - von Seiten der Helfer, aber
auch von den Betroffenen im Gespräch mit anderen und im Umgang mit sich
selbst, das heißt im Ernstnehmen und Reflektieren der eigenen Erfahrung.
Der kanadische Medizinsoziologe Arthur
Frank, der seine eigene Geschichte mit zwei
lebensbedrohlichen Erkrankungen niedergeschrieben hat und sich intensiv
wisssenschaftlich mit solchen Erzählungen auseinander setzt, sieht in der
mitgeteilten oder innerlichen Gestaltung der eigenen Erfahrungsgeschichte einen
ethischen Akt: die Geschichte des kranken Körpers und behinderten Lebens
zu formulieren und zu konstruieren, bedeutet für ihn auch, Verantwortung
dafür zu übernehmen, dass man die Dinge so sieht, sich so
damit auseinander setzt, sie so bewertet.
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