Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/04


Gesundheitshandeln:
Teil der Lebensgeschichte


Die erste umfassende wissenschaftliche Studie zum Gesundheitshandeln in Deutschland
stammt aus der Frauenforschung. Deutlich wurde die Einbettung des Gesundheitshandelns in die Lebensgeschichte der Frauen (Kleese et al. 1992). 65 junge Mütter im Alter von 20-35 Jahren wurden zu
ihrer Lebensgeschichte und der darin enthaltenen Gesundheitsgeschichte in umfangreichen qualitativen
Interviews befragt.
Die meisten Frauen in dieser Untersuchung weisen ein sehr weit gefächertes und ausdifferenziertes
Gesundheitskonzept auf. Wohlbefinden, sich gut fühlen ist dabei stets die zentrale Kategorie. Bei
den Gesundheitskonzepten wird zudem deutlich, dass der Grad des sich Gesundfühlens davon beeinflusst wird, in welchem Ausmaß es einer Frau gelingt, trotz der vielfältigen Verhinderungen, ihre
Identität und ihr Selbstgefühl zu entwickeln, zu sichern und zu fördern (Kleese et al. 1992, S. 18ff).
Dabei ist das Alltagshandeln einer Person in der Regel nicht primär an Gesundheit ausgerichtet, sondern
an der Gestaltung des Alltags, am Familienleben oder/und am Beruf.

Das Individuum im Mittelpunkt
von Gesund-Sein


Zusammenfassend ist es aus systemischer Sicht sinnvoll, von Gesund-Sein zu sprechen, um
deutlich zu machen, dass es sich um eine veränderte, individuelle Sichtweise handelt. Gesundheit
dagegen läuft Gefahr, in unserer hochtechnisierten Welt zur erwerbbaren Ware oder zum kaufbaren
Produkt stilisiert zu werden. Gesund-Sein stellt das Individuum in den Mittelpunkt. Ich habe keine
Gesundheit, sondern ich bin gesund.
Damit ist jede(r) Expertin und Experte des eigenen Gesund-Seins. Im Bezug auf die umfassende
Betrachtung des eigenen Gesund-Seins würde ich Laien sogar als die größeren ExpertInnen als
die Professionellen sehen, da diese häufig reduktionistisch arbeiten.
Gesund-Sein bedeutet dann auch, Mann oder Frau nicht als Objekt der Expertenbemühungen
zu sehen, sondern als handlungsfähiges Subjekt in einer helfenden Beziehung. Diese Sichtweise stellt
neue Anforderungen an die Professionellen. Die Feldenkrais-Arbeit hat sich bereits so organisiert:
„Im Prozess organischen Lernens sind Schülerin und Feldenkrais-Lehrerin zwei Experimentierende und
Lernende“
(Pieper/Weise 1996, S.17).

Den Blickwinkel verändern

In einer Gesund-Seins-Förderung steht das Individuum als Einheit von Körper, Seele und Geist im Mittelpunkt. Der Blickwinkel geht vom Gesund-Sein und den Ressourcen aus. Von dort aus blickt man auf das Krank-Sein und die Risiken. Die Gesund-Seins-Förderung ist dabei ein Prozess, der allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglicht (WHO, 1986). Die systemische Sichtweise stellt Gesund-Sein und Krank-Sein in den Zusammenhang von Risiken und Ressourcen und betrachtet das Individuum in seiner Mit- und Umwelt.
In Abwandlung des Zitates von Heinrich Schipperges ließe sich sagen: Gesund-Sein ist ein gestaltbarer
Weg, der sich bildet, indem man ihn in der Umwelt gemeinsam mit anderen geht. In der Feldenkrais-
Arbeit geht es auch um ein unterwegs sein. Barbara Pieper und Sylvia Weise haben dafür das
Bild des Labyrinths gewählt (1996, S.XII). Sabine Pankofer (2002, S. 27) hat im Rahmen der
Feldenkrais-Arbeit bewusst zu gehen gelernt „rückwärts-vorwärts“ in Zeiten der Entscheidungsfindung.
Für mich persönlich stellt das Bild „Gesund-Sein als Weg“ das für mich Gestaltbare in den Vordergrund und im Gehen wird mir die körperliche/leibliche Erfahrung möglich.

Blick auf Ressourcen

Das Wort Ressourcen lässt sich am besten mit Schutzfaktoren beziehungsweise Hilfs- oder Kraftquellen
übersetzen. Im individuellen Sinn sind unter Ressourcen persönliche Stärken, im ökosozialen stützende Hilfsquellen aus Mit- und Umwelt gemeint.
Personale Ressourcen beziehen Körper, Seele und Geist des Individuums mit ein. Sie umfassen Persönlichkeitsmerkmale wie körperliche Fähigkeiten oder Selbstvertrauen und Handlungskapazität.
Der Begriff der Handlungskapazität macht es möglich, subjektives Gesundheitshandeln miteinzubeziehen.
Handlungskapazität bezeichnet die Fähigkeit „als richtig Erkanntes“ tatsächlich in eine Gesundheitshandlung umzusetzen. Effektives Gesundheitshandeln muss dabei unbedingt in die
Handlungsstruktur des Alltags passen.
Zahlreiche empirische Belege existieren mittlerweile für die gesundheitschützende Wirkung der
sozialen Unterstützung. Das soziale Unterstützungsnetzwerk bietet dabei emotionale Unterstützung in
Form von Wertschätzung und Akzeptanz, informationelle Unterstützung durch das Bereitstellen von
Informationen sowie Einschätzungsunterstützung durch Bewertungs- und Lösungshilfen. Die soziale
Unterstützung kann im Sinne der unmittelbaren Förderung von Wohlbefinden und Selbstwertgefühl
wirken (Fröschl 2000, S. 30-36).
In der Feldenkrais-Arbeit werden der Person über Bewegung neue Ressourcen erlebbar gemacht,
sozial unterstützt durch die Begleitung der Lehrerin. Auch hier geht es darum, wie sich der Person
neue Handlungsmöglichkeiten erschließen (lassen).

Salutogenese:
einfach anders fragen

Der amerikanische Medizinsoziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky (1923-1994) leistet
Ende der siebziger Jahre einen entscheidenden Beitrag zum Paradigmenwechsel. Er stellt die entscheidende Frage: was hält eigentlich Menschen gesund, anstatt sie zu fragen, was macht sie
krank. Seine „Kehrtwendung“ wie er es selbst nennt, beginnt 1970, als er in einer empirischen Studie
israelische Frauen und ihre Anpassung an die Wechseljahre untersucht. Dabei fällt sein Augenmerk
auf Frauen, die im Konzentrationslager waren. 29 Prozent dieser Frauen verfügen über eine gute
psychische Gesundheit. Wie kann eine Frau die unglaublichen Torturen im Konzentrationslager überleben
und trotzdem gesund bleiben? Dieser entscheidenden Frage ist sein Grundlagenwerk „Health, Stress and Coping“ gewidmet. Der Begriff der Salutogenese, gefunden von seiner Frau, wird geprägt.
Salutogenese stellt die Frage nach der Entstehung von Gesundheit („Salus“ lat. Unverletztheit, Heil, Glück, Erlösung; „Genese“ griech. Entstehung).
Zentral in seinem Konzept ist der Umgang mit den allgegenwärtigen Stressoren. Stressoren sind definiert als eine „von innen oder außen kommende Anforderung an den Organismus, die sein Gleichgewicht stört und die zur Wiederherstellung
des Gleichgewichtes eine nicht-automatische und nicht unmittelbar verfügbare energieverbrauchende
Handlung erfordert“ (Antonovsky 1979, S. 72). Von Bedeutung sind dabei chronische Stressoren, wichtige Lebensereignisse und akute tägliche Widrigkeiten (1997, S. 44). Auf diese Stressoren antwortet der Organismus mit Spannung. Diese Spannung kann sowohl negativ, neutral oder positiv sein (Antonovsky
1979, S. 94). Dabei sind zwei Aspekte zentral: Stressoren müssen nicht zwangsläufig zu gesundheitlich
negativen Folgen führen, sondern können auch gesund sein. So kann das Immunsystem auf die
Auseinandersetzung mit Keimen positiv im Sinne einer Immunstärkung oder eines Immungedächtnisses
reagieren (als positive Spannung), aber bei aggressiven Viren wie HI (AIDS-Virus) auch überfordert
sein (als negative Spannung). Außerdem versteht Aaron Antonovsky die Auseinandersetzung
mit Stressoren als alltägliches Phänomen, nicht als Ausnahme.
Der Spannung können generalisierte Widerstandsressourcen (Generalized Resistance Resources,
GRR) entgegengesetzt werden (1979, S. 99). Widerstandsressourcen sind potentielle Ressourcen, die eine Person mobilisieren und dann bei der Suche nach einer Lösung für das instrumentelle Problem anwenden kann (Antonovsky 1997, S. 19). Er unterscheidet dabei psychosoziale und konstitutionelle GRR. Psychosoziale Widerstandsressourcen sind materielle Ressourcen, Wissen und Intelligenz, Ich-Identität, Bewältigungsstrategien, soziale Unterstützung, Kontrolle, kulturelle Stabilität, magische Faktoren, Religion und Kunst und eine präventive Gesundheitsorientierung. Unter konstitutionellen GRR versteht er die körperliche Ausstattung unter Einbezug genetischer Faktoren
(Antonovsky 1997, S. 200).

voriger Teil (2) ** letzter Teil (4)
voriger Artikel ** nächster Artikel
Inhalt von FP 2/04 ** FP-Gesamtübersicht
Startseite