Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/05

Von heilenden Worten und Killersätzen


KADAUKE-RINK Veränderte Arzt-Patient-Beziehung

In den letzten Jahrzehnten, so SCHEIBLER, haben sich die Rollenerwartungen der Patienten grundlegend
verändert. Während früher die Vorstellung vorherrschte, der Arzt entscheide alleine über die
angemessene Therapie – und somit ein „Paternalistisches Modell“ die Regel war , stehen heute
mehrere Modelle der Arzt-Patient-Beziehung nebeneinander, die sich auch in der Art und Weise
unterscheiden, wie Entscheidungen der Therapie getroffen werden. So wird ein „Konsumentenmodell“
beschrieben, bei dem der Arzt als technischer Experte fungiert, der dem Patienten die fachlichen
Informationen anbietet, dieser aber selbst die Entscheidung trifft. Ein Modell, bei dem Arzt und
Patient gleichermaßen aktiv werden, wird als „Modell der Gegenseitigkeit“
bezeichnet. Hier besprechen Arzt und Patient gemeinsam die Handlungsmöglichkeiten.
Über die gemeinsame Informationsgewinnung und den Dialog zwischen Arzt und Patient können
Therapieziele gemeinsam definiert, erreicht und verantwortet werden. Die Zahl der Patienten,
die diese Art der Beziehung - und der partizipativen Entscheidungsfindung
(PEF oder shared decision making – SDM - genannt) – vorziehen, wächst. Untersuchungen zeigen
auch, dass Patienten, die in dieser Weise mit einbezogen werden in ihre Therapie und damit
auch die Bewältigung der Krankheit, eher bereit sind, sich auf die Therapie einzulassen.

KADAUKE Wir würden SDM/PEF einbeziehen können in „unser“ Dreieck: Auf der Basis einer
gemeinsamen Beziehung können sich Arzt/Therapeut und Patient gleichberechtigt über die Krankheit
verständigen – in diesem Falle über mögliche Therapieansätze. Der Patient kann seine persönliche
Lebensgeschichte mit der Erkrankung, auch seine Werte mit einbringen, der Arzt kann mit seinem
Wissen, seinen Werten und persönlichen Vorstellungen mitwirken. Aus den möglichen Optionen
würde dann gemeinsam eine Entscheidung getroffen werden. Es geht bei dieser Entscheidungsfindung
also nicht nur um die – sachbetonte - Diskussion der Vor- und Nachteile, sondern eher um das,
was als „Dialog“ bezeichnet wird: „In einem Dialog versuchen also die Gesprächsteilnehmer nicht,
einander gewisse Ideen oder Informationen mitzuteilen, die ihnen bereits
bekannt sind. Vielmehr könnte man sagen, dass die beiden etwas gemeinsam machen, das heißt,
dass sie zusammen etwas Neues schaffen.“ (BOHM)

RINK Ich halte die Patientenautonomie für einen zentralen Aspekt. Wenn der Arzt einen Patienten
nicht als Träger einer Erkrankung sieht, sondern als Menschen mit einer Geschichte, mit einer Biographie,
die respektiert wird, kann er seinem Patienten helfen, seine eigene
persönliche Entscheidung zu treffen. Patientenautonomie kann allerdings nicht heißen, dass
einem Patienten eine Vielzahl von Optionen aufgezeigt wird und er dann die Qual der Wahl hat.
Da ist noch ein Aspekt, der nicht außer acht zu lassen ist. In dem Moment, indem ein Patient mehrere
Expertenmeinungen einholt – und das ist bei MS häufig der Fall – kann das Aufsuchen eines Arztes,
der eine paternalistische Vorgehensweise an den Tag legt, also dem Patienten die Verantwortung
für seine Behandlung abnimmt, für den Patienten entlastend sein und
eine Erleichterung darstellen. Auch deshalb, weil unsere hochtechnisierte Medizin für den Laien
immer undurchschaubarer wird. (BÖKER). Ich möchte kurz eine Studie beleuchten, die dieses Verhältnis
zum Forschungsinhalt hatte:

RINK Medizinsoziologische Betrachtung der Arzt-Patienten-Beziehung bei MS

Im Rahmen eines empirischen Forschungsprojektes wurden von der Abteilung Medizinsoziologie
der Universität Göttingen 60 MSPatienten über einen Zeitraum von fünf Jahren begleitet. Neben der
Erhebung von sozial- und gesundheitsrelevanten Daten zielte die Untersuchung darauf ab, das
Krankheitserleben und die Krankheitsverarbeitung zu erforschen.
Unter anderem wurde die Bedeutung der Ärzte aus der Sicht der Patienten untersucht. Es ließen
sich vier verschiedene Einstellungsmuster gegenüber Ärzten extrahieren:

• 22 Patienten sahen im Arzt
einen Partner
• 20 Patienten erlebten ihren Arzt
als machtlose Autorität
• 10 Patientinnen sahen im Arzt
eine Instanz von Schutz und
Versorgung
• 9 Patienten (davon nur eine
Frau) suchten in ihrem Arzt den
Reparateur

Der Arzt als Partner zeichnete sich dadurch aus, dass er eine kooperative
Arbeitsbeziehung zum Patienten ermöglichte, in der ein gemeinsames Vorgehen jeweils
ausgehandelt wurde. Die Patienten, die ihren Arzt so sahen, hatten
ihre Diagnose akzeptiert, versuchten sie zu begreifen und den Umgang mit der Krankheit zu erlernen.
Ihnen war wichtig, die aufgeworfene Bedrohung zu begrenzen und zu kontrollieren.
Bei diesem Arrangement war der Arzt ein wichtiger Bündnispartner.

Die zweite Gruppe suchte in ihrem Arzt eine Autorität, an den sie die Behandlung ihrer Erkrankung
vertrauensvoll delegieren können. Sie erhofften sich von der Behandlung, wenn schon keine
Heilung möglich ist, wenigstens einen Stillstand. An ängstigenden Informationen oder Gesprächen
über psychosoziale Folgeprobleme waren sie nicht interessiert. Arztbesuche wurden auf das Notwendige
beschränkt.

Die Frauen der dritten Gruppe, die in ihrem Arzt eine gewissenhafte, treusorgende Elternfigur
sehen wollten, erhofften sich persönliche Zuwendung. Sachliche Informationen und Aufklärung
waren weniger wichtig. Sie wollten als ernstzunehmende Kranke akzeptiert werden. Die früh vermittelte
Aufklärung über die Chronizität der Erkrankung führte in keinem Fall zu einer dauerhaften Enttäuschungsreaktion
oder Kritik an fehlenden Möglichkeiten der Medizin.

Die zahlenmäßig kleinste Gruppe von überwiegend Männern suchte die schnelle, durchschlagende
medizinisch-technische Antwort auf ein körperliches Problem. Sie waren maßlos erschüttert in
ihrem Glauben an Ärzte und gingen nur noch punktuell dort hin, obwohl sie zum Teil schwerer betroffen
waren. (ZIEGELER/FRIEDRICH)

KADAUKE Hier werden Beziehungen beschrieben – wie sieht ein Patient/eine Patientin den
Arzt/die Ärztin. - Wenn ich diese Tabelle mit den Augen für das „Beziehungs-Dreieck“ sehe, fällt mir
noch auf, dass neben der MS als Krankheit eine Anzahl weiterer Themen wichtig ist in der Kommunikation
zwischen den beiden – Therapeut und Klient, Arzt und Patient. Themen wie „Verantwortung“
„gegenseitige Ansprüche“, „Enttäuschung“ und „Erwartungen der Gesprächsteilnehmer“





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