Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/07

Meine Stärken entdecken!
Empowerment-Training für Menschen mit MS


Auszug aus dem Curriculum (Lehrplan)*


Im Empowerment-Training der Stiftung LEBENSNERV wird das Konzept der „ganzheitlichen Sicht“ einer Erkrankung an MS mit dem Konzept der „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ verknüpft.
Die Erkrankung an MS ganzheitlich zu betrachten, bedeutet: Alle Aspekte, körperliche, psychische und umfeldbedingte sind integriert zu beachten. Es ist noch nicht genau geklärt, in welcher Weise diese Aspekte bei MS zusammenwirken. Tatsache ist, wie auch die Ergebnisse der Psychoneuroimmunologie (PNI) belegen, dass jede Erkrankung immer den ganzen Organismus betrifft und nicht einzelne Aspekte gelöst voneinander betrachtet werden können. Diese Erkenntnis gilt auch für die Erkrankung an MS. Zu einer ganzheitlichen Betrachtung gehört aber auch die Berücksichtigung der Tatsache, dass rund zwei Drittel aller MS-erkrankten Personen Frauen sind, eine geschlechtsdifferenzierte Sichtweise ist deshalb immer zwingend geboten.
Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung vertritt die Ansicht, dass behinderte und/oder chronisch kranke Menschen ExpertInnen in eigener Sache sind und alle Entscheidungen, die sie betreffen, in die eigene Hand nehmen. „Behinderung“ wird aus einer bürgerund menschenrechtsorientierten Perspektive gesehen und nicht auf einen medizinisch-sozialen Blickwinkel verengt. Der Mensch mit Behinderung oder chronischer Erkrankung ist so immer „Subjekt“ mit voller gesellschaftlicher Teilhabe und dem gleichberechtigten Zugang zu allen Waren und Dienstleistungen einer Gesellschaft und kein „defizitäres Objekt“ im medizinischen System.

Didaktische Prinzipien des Empowerment-Trainings


1) Generelles Prinzip: Biographisches Erinnern, Erzählen, Lernen
Um der erlebten Hilflosigkeit, der Verunsicherung über die Zukunft und der Erschütterung der Identität zu begegnen, ist als generelles didaktisches Prinzip die Biographie-und Erinnerungsarbeit sinnvoll. Nach Herriger gliedert sich dies in folgende Teilziele:
• Kontinuität und Lebenskohärenz: Hier geht es in der Erinnerungsarbeit darum, den „roten
Lebensfaden“ wiederzuentdecken und trotz aller Brüche und Erschütterungen die „Kohärenz“, also den sinnstiftenden Zusammenhang zu sehen.
• Entdecken von verschütteten Stärken: Welche (oft verschütteten) Stärken und Ressourcen hat eine Person und wie kann sie ihre Stärken einsetzen, um sie in belastenden Situationen als Unterstützung zu erfahren?
• Herstellen von Zugehörigkeit: Hier geht es um das Erinnern und die Bewusstmachung von gelebten Beziehungen, die den Menschen verloren gegangen sind und die ihre Zugehörigkeit zu sozialen Netzen deutlich machen.
• Bilanzierung von Lebensniederlagen: In einer Erinnerungsarbeit können biographische Fehlentscheidungen nicht rückgängiggemacht werden. Sie können aber bearbeitet und positiv in der eigenen Biographie verarbeitet und so nicht „abgespalten“, sondern „aufgehoben“ werden.
• Zugewinn von Zukunft: Erinnerte Lebensgeschichte gibt ein Profil vor, das zum Werkzeug von bislang ungelebten Teilen der Persönlichkeit, von Utopien für die Zukunft werden kann.

2) Prinzip der Ganzheitlichen Sicht – Lernfeldorientierung
Entsprechend einem ganzheitlichen Verständnis der Erkrankung an MS wird auch die Durchführung der Empowerment-Trainings im Sinne eines ganzheitlichen Lehrens und Lernens nach dem Modell des Lernfeldes organisiert. Dies bedeutet, dass die einzelnen Weiterbildungsinhalte nicht isoliert voneinander stehen, sondern miteinander verknüpft sind und dass der Bezug zum eigenen Erleben und Handeln immer gegeben ist. Es wird außerdem nur wenige Frontalanteile geben, sondern es wird vermehrt mit eigenständig entdeckenden, kreativen Methoden gearbeitet (dies umfasst theoretische Anteile, Selbsterfahrungsanteile, musische, kulturelle, spirituelle Anteile, Körperarbeit). Ganzheitli-ches Lehren und Lernen bedeutet auch, dass die TrainerInnen vor und während der Trainings zusammen als Team arbeiten.

3) Prinzip des Rollenmodells – Peers als TrainerInnen
Das Begriffspaar „Peer-Support/Peer-Counseling“ stammt aus der weltweiten „Independent Living-Bewegung“ behinderter Menschen, die für Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Eigenverantwortung eintreten. Hier sind die UnterstützerInnen und BeraterInnen „peers“, „Gleiche“ – also Menschen, die Ähnliches erlebt haben wie ihr Gegenüber. „Peer-Support“ steht dabei für das allgemeine, zugrundelegende Prinzip der Unterstützung durch Gleich-Betroffene, während das „Peer-Counse-ling“ eine fest umrissene Beratungsmethode ist.
Bei der gemeinsamen Biographiearbeit bringen die betroffenen TrainerInnen ihre eigenen Erfahrungen mit ein: ihre Mühen und Ängste, aber auch ihr Selbstvertrauen und ihren Mut. Dadurch, dass der Trainer oder die Trainerin zum einen selber behindert oder chronisch krank ist, zum anderen zusätzlich die fachliche Qualifikation als TrainerIn mitbringt, kann sich eine größere Vertrauensbasis entwickeln. Im Beispiel des selbstbestimmtenLebens mit Behinderung oder chronischer Krankheit eines/r selbst betroffenen TrainerIn können Menschen mit MS ein Rollenmodell für sich selbst entdecken, das ihnen Wege aus der Identitätskrise weisen kann.

4) Prinzip der Barrierefreiheit
Mangelnde Barrierefreiheit im Leben einer behinderten Person kann eine erhebliche Einschränkung von Lebensqualität bedeuten, erlebte Barrierefreiheit stellt somit eine wichtige Ressource für einen gelingenden Empowerment-Prozess dar. Die Rahmenbedingungen des Empowerment-Trainings orientieren sich deshalb an den Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) zur Barrierefreiheit. Alle Trainingseinheiten finden deshalb in barrierefreien Räumlichkeiten statt. Die Trainingsmaterialien werden auf Wunsch in alternativen Formaten zur Verfügung gestellt. Alle TrainerInnen sind gehalten, ihre Einheiten barrierefrei nach den individuellen Bedürfnissen der TeilnehmerInnen zu gestalten.

Ziele der Weiterbildung

Generelles Ziel ist die Steigerung der Handlungskompetenz von MS-Betroffenen im Spannungsfeld zwischen Sparzwängen/Bevormundung einerseits und eigenen Bedürfnissen/eigenen Kompetenzen andererseits. Dieses generelle Ziel lässt sich weiter wie folgt untergliedern:
• Abbau von Hilflosigkeit und Opferhaltung
• Stärkung des Selbstbewusstseins und der Selbstwirksamkeit
• Erweiterung von Handlungsspielräumen
• Erkennen, Erweitern und Freisetzen von eigenen Ressourcen
• Erkennen und Einordnen des eigenen Lebensweges
• Ermöglichung von Autonomie und Selbstbestimmung
• Stärkung von Selbstvertretungs und Selbsthilferessourcen

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