Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/08

„Erzählen Sie doch bitte …“


Das Narrative spielt in der hausärztlichen Medizin eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Angst des Arztes, sich dadurch ausufernden Erzählungen aussetzen zu müssen, ist meist unbegründet. Vielmehr lassen sich in einer gesundheitsorientierten Gesprächsführung durch und mit dem Patienten die Ressourcen und Ziele erarbeiten, die er erreichen will und kann. Am Ende steht eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient.

Von Ulrich Schwantes



„Um Himmels Willen“ werden die meisten Ärztinnen und Ärzte sofort denken, wenn sie die Überschrift lesen.Wer seinen Patienten derart auffordert, das Wort zu ergreifen, darf sich nicht wundern, wenn dieser bei seinen Ahnen anfängt und mit den Wünschen in fernster Zukunft immer noch nicht aufhört. Diese Befürchtungen entbehren jedoch jeglicher Grundlage. Patienten suchen ihren Arzt nicht auf, um zu plaudern, sondern weil sie Unterstützung suchen bei Dingen, die in irgendeiner Weise ihr Befinden stören. Schnell wird der Arzt deswegen in das Gespräch einbezogen, ohne dass er sich seinen Redeanteil „erkämpfen“ muss. Bereits 1989 hat der britische Neurologe N.J. Blau gemessen, dass die „time to let the patient speak“ (so der Titel seines Aufsatzes) lediglich 1 Minute und 40 Sekunden betrug.

Wolf Langewitz, Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Basel, hat 2002 eine ähnliche Untersuchung durchgeführt. Ärztinnen und Ärzte wurden zunächst im „aktiven Zuhören“ geschult. Sie hatten die Aufgabe, Patienten im Erstkontakt in der Ambulanz der Uniklinik zu Beginn des Gesprächs nur zuzuhören, den Redefluss nicht durch Fragen zu unterbrechen, eventuelles Stocken durch Gesten oder paraverbal (hm!) wieder voranzubringen. Gemessen wurde die „spontane Redezeit“ der Patienten, das heißt die Zeit bis zur Aufforderung an die Ärztin, zum Gesagten Stellung zu nehmen („Was meinen Sie dazu, Frau Doktor?“). 335 Patienten erfüllten alle Einschlusskriterien und konnten in die Auswertung aufgenommen werden. Im Mittel betrug die „spontane Redezeit“ 92 Sekunden. Bemerkenswert an den Ergebnissen war außerdem, dass mit Ausnahme des Alters soziodemografische Faktoren auf dieses Ergebnis keinen Einfluss hatten. Nur sieben Patienten brauchten mehr als fünf Minuten. Patienten überbeanspruchen also nicht unsere Zeit, wenn man ihnen freien Raum gibt.

Das Patientenbeispiel 1 auf Seite 14 zeigt, was im ersten Gespräch mit dem Patienten zunächst herausgefunden werden muss: Worum geht es überhaupt! Eine Diagnose zu stellen, bedeutet ja nicht, sich ärztlicherseits beim ersten erkennbaren Krankheitsbild festzuhaken und drumherum eine Differenzialdiagnose aufzubauen. Meist gilt es, aus oftmals noch vagen Befindlichkeitsstörungen ein schlüssiges Bild zu entwickeln. Besser gesagt: den Patienten es entwickeln zu lassen. Dessen Wahrnehmungen sind anfänglich oft noch diffus und von sich überlagernden Bedeutungen durchzogen. Etwas Akutes drängt dabei rascher in den Vordergrund, bleibt dennoch eingebettet in die Gesamtheit des subjektiven Erlebens des Patienten. Chronische Zustände sind von vornherein (oder bereits wieder) viel mehr verwoben in die unterschiedlichsten Situationen des individuellen Lebens. Der Anlass für die Arztkonsultation erscheint in Facetten oft erst im Laufe einer längeren Zeit in variierenden Erzählungen.

Solche Erkenntnisse sind in den vergangenen Jahrzehnten von verschiedenen Ärzten dargestellt worden. Ein Beispiel dafür ist das „disease-illness“-Modell von Stewart und Roter von 1989. Die englische Sprache unterscheidet zwischen disease (= Krankheit) und illness (= Kranksein). Der Krankheit zugeordnet sind aus der Vorstellungswelt des Arztes Symptome, Zeichen und Befunde, dazugehörige Untersuchungen und Techniken. Dieses führt zur Diagnose und Differenzialdiagnose und Therapie auf pathologischer Grundlage. Das Kranksein hingegen entspricht der Vorstellungswelt des Patienten: seinen Erfahrungen, Ideen, Vermutungen, Erwartungen, Gefühlen, Gedanken, Auswirkungen. Es erwartet ein Verständnis für das einzigartige Ereignis des eigenen Krankseins. Beides soll in der Begegnung zwischen Patient und Arzt zusammengebracht werden. Der Patient soll die Diagnose und die darauf sich beziehende Therapie verstehen können. Das bedeutet nichts anderes, als diese zu einem Teil seines Lebens zu machen, den subjektiven Bewertungen zu unterziehen, es in der gesamten Lebenssituation gewissermaßen aufgehen zu lassen. Der Arzt soll seine Diagnose aus den Lebensumständen des Patienten erkennen und die notwendige Therapie auf die subjektiven Bedingungen abstellen. Dazu gehört ein offenes Ohr und hohe Aufmerksamkeit für die Geschichte des Patienten, die nicht nur die jeweiligen Probleme beeinhaltet, sondern auch alle Ressourcen, die zur Bewältigung erforderlich sind.


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