Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/09
Gisela Hermes



Zur Dynamik des Kohärenzgefühls

Bei der Frage, ob und wenn ja, wie sich das Kohärenzgefühl steigern ließe, war Antonovsky eher pessimistisch und sah hier kaum Möglichkeiten. In einer späteren Veröffentlichung relativierte er diese starre Annahme jedoch teilweise: „Bei jeder Person kann eine Zufallsbegegnung, eine mutige Entscheidung oder sogar eine von außen herbeigeführte Veränderung eine beträchtliche Veränderung des Ausmaßes des SOC in die eine oder auch in die andere Richtung auslösen.“ (Antonovsky 1997) Des Weiteren führt er aus, dass der SOC-Status beträchtlich ansteigen kann, wenn eine Person mit einem gemäßigten oder niedrigen SOC „(…) in ihrer neuenGemeinde eine Selbsterfahrungsgruppe besucht, zur Arbeit geht und per Zufall in eine sie verjüngende Liebesbeziehung gerät.“ (Ebda.)

Solch radikale Veränderungen hält er aber für relativ selten. Er stellt drei Möglichkeiten einer Veränderung in den Raum: zwei Möglichkeiten einer „geringfügigen Modifikation“ (etwa in guten Arzt- Patient-Gesprächen), wobei sich der SOC-Wert um etwa fünf Punkte verändern könnte und eine mit „einschneidende(r) Veränderung“, womit er „jedes therapeutische Vorgehen ..., das eine lang anhaltende, konsistente Veränderung“ meint. Als bedeutsam für diese dritte Möglichkeit der Veränderung sieht Antonovsky auch „Einflußnahme und Teilhabe an sozial anerkannten Entscheidungsprozessen (Partizipation)“ (Ebda.), er nennt dazu jedoch keine quantitative Größe.

Durch neuere Forschungsergebnisse wird die Möglichkeit der Veränderbarkeit des SOC bekräftigt: „Im Gegensatz zu Antonovskys Feststellung, dass ab etwa 30 Jahren das Kohärenzgefühl stabil bleibt, zeichnet sich in neueren Untersuchungen ab, dass der SOC bis ins hohe Alter veränderbar ist“ (Bengel, u.a. 2001). Antonovsky selbst leistet auch einen (ungewollten?) Beleg für eine Veränderbarkeit, wenn er in seinem Vorwort zu „Entmystifizierung der Gesundheit“ schreibt: „Wenn das Schreiben dieses Buches mir Lebenserfahrungen gebracht hat, die mein eigenes SOC gestärkt haben, dann habe ich dies zu einem großen Teil Helen zu verdanken.“ (Antonovsky 1997) Dies schrieb er im Jahr 1986, also im Alter von 63 Jahren.

Der SOC-Fragebogen im Spiegel der Forschung

Zur Messung des SOC entwickelte Antonovsky 1983 einen Fragebogen mit 29 Items, bei denen jeweils sieben Antwortabstufungen vorgesehen sind und die in ihrer Reihenfolge in den späteren Jahren leicht verändert wurden. Dieser Fragebogen wurde bei Antonovsky zwar nur in hebräischer und englischer Sprache eingesetzt, doch er betont, dass der „Fragebogen kulturübergreifend verwendet werden kann.“ (Antonovsky 1997).

Die theoretische Spannbreite der mit diesem Instrument erreichbaren Punktzahl liegt zwischen 29 und 203, der rein rechnerische Mittelwert liegt somit bei 116 Punkten (wenn jedesmal die mittlere Antwort mit vier Punkten angekreuzt würde). In den Studien, die Antonovsky Anfang der 80er Jahr mit seinem Messinstrument durchführte, lag der jeweils erreichte Mittelwert der Stichproben jedoch wesentlich höher: Eine israelische Bevölkerungsstichprobe (N=297) erreichte einen Mittelwert von 136,47 Punkten, Industriearbeiter im Staat New York (N=111) einen Mittelwert von 133,01 Punkten und eine Gruppe israelischer Offiziersanwärter (N=338) sogar einen Mittelwert von 160,44 Punkten (vgl. Antonovsky 1979). Zwar hatte Antonovsky seine drei Komponenten des Kohärenzgefühls (Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit) theoretisch voneinander getrennt, in der empirischen Praxis zeigte es sich aber, dass diese Komponenten nicht zu trennen waren. Antonovsky warnt deshalb davor, „dass es nicht klug ist, die vorliegende Version der SOC-Skala einzusetzen, um die Beziehungen der Komponenten untereinander zu untersuchen. Dieses Problem verbleibt auf der Agenda der nicht abgeschlossenen Aufgaben. So gesehen misst die SOC-Skala also „nur“ einen Generalfaktor. Diesen Umstand bekräftigt auch eine deutsche Studie.

Die deutsche Normierung der SOC-Skala wurde erst im Jahr 2000 vorgenommen. Es wurden 855 Männer und 1.089 Frauen im Alter von 18–90 Jahren untersucht. Der erzielte Mittelwert bei der SOC-29-Skala lag demzufolge bei 145,66 Punkten, wobei die Männer um durchschnittlich fünf Punkte besser abschnitten (Männer rund 148 Punkte, Frauen ca. 143 Punkte) (vgl. Bengel u.a. 2001).

Während Antonovsky noch angenommen hatte, dass das Kohärenzgefühl einen direkten Einfluss auf die Gesundheit im Allgemeinen hatte, schält sich in neueren Untersuchungen immer mehr die Erkenntnis heraus, dass dies eher auf die psychische als auf die physische Gesundheit zutrifft: „Das Kohärenzgefühl zeigt einen hohen negativen Zusammenhang zu Maßen psychischer Gesundheit (Hervorhebung durch die AutorInnen) wie Ängstlichkeit und Depressivität; d.h. Menschen, die einen hohen SOC haben, sind weniger ängstlich und depressiv als Menschen mit einem niedrigen SOCWert“ (Bengel u.a. 2001).

Als Fazit aus den bisher vorliegenden Untersuchungen zum SOC ist festzuhalten:
– die SOC-Skala kann sinnvoll in der Praxis eingesetzt werden
– der Mittelwert aus der deutschen Normung beträgt rund 145 Punkte
– das Kohärenzgefühl ist bei klinischen Gruppen niedriger als bei Zufallsstichproben
– Frauen haben im Durchschnitt einen etwas niedrigeren SOC als Männer, was durch ihre Sozialisation erklärt wird
– das Kohärenzgefühl steigt mit dem Alter an
– es besteht eine deutliche Verbindung zwischen hohem SOC und seelischer Gesundheit
– der SOC-Wert kann bis in hohe Alter verändert werden










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