Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/09




Konsequenzen für andere Krankheitsbilder

Die vorliegende Studie wurde als Pilotstudie am Beispiel von Menschen mit Multipler Sklerose und Migrationshintergrund durchgeführt. Nach Ansicht der AutorInnen lassen sich jedoch auch allgemeine Konsequenzen für die gesundheitsbezogene Selbsthilfearbeit für Menschen mit Migrationshintergrund und anderen chronischen Krankheiten herausarbeiten. Diese allgemeinen Konsequenzen gliedern sich in „sechs Notwendigkeiten“ und sind als dringende Abhilfemaßnahmen zu einem bestehenden Defizit zu verstehen:

1. Notwendigkeit verstärkter Forschung

Mangel an belastbaren statistischen Daten: In fast allen Publikationen zum Thema Migrationshintergrund und Gesundheitsförderung / chronische Krankheit wird festgestellt, dass es zu wenig belastbare statistische Daten gibt. Im Mikrozensus 2006 werden etwa nur die Kriterien „Krankheits-/ Unfallverletzte“, „Rauchverhalten“ und „Body-Maß-Index“ abgefragt. Statistisches Material zur Häufigkeit einzelner chronischer Krankheiten bei Menschen mit Migrationshintergrund ist kaum existent.

Mangel an Studien zum Leben mit einer chronischen Erkrankung: Bis auf den Bereich der psychischen Erkrankungen / Depressionen gibt es kaum Studien dazu, wie Menschen mit Migrationshintergrund und chronischen Erkrankungen in Deutschland leben. Gendersensible Studien sind auch kaum vorhanden.

Mangel an Studien zu einer „cultural-based-medicine“: Es existieren nur sehr wenige Studien / beziehungsweise Institutionen, die sich mit einem unterschiedlichen Verständnis von Kultur, Gesundheit, und (chronischer) Krankheit befassen.

2. Notwendigkeit verstärkter Aufklärung und Bewusstseinsbildung

Sichtbarmachung: Menschen mit Migrationshintergrund und chronischen Erkrankungen sind im Gesundheitswesen nicht sichtbar (Ausnahmen bestehen im Bereich psychischer Erkrankungen und Demenzerkrankungen). Es dominiert in der Regel der akutmedizinische Aspekt.V

Ressourcenorientierung: Menschen mit Migrationshintergrund und chronischen Erkrankungen werden in der Regel als defizitär wahrgenommen und ihre Ressourcen (Mehrsprachigkeit, ExpertInnen der eigenen Erkrankung, Mehrkulturen-Kompetenz) werden nicht oder zu wenig aktiv eingesetzt.

Aufklärungskampagnen: Es sind umfassende Aufklärungskampagnen (in Kooperation mit den Migranten-Communities und den relevanten Selbsthilfeorganisationen) zum Leben mit chronischen Krankheiten erforderlich, die auch das Ziel haben, das Selbsthilfepotenzial der Betroffenen zu entwickeln.

3. Notwendigkeit der Entwicklung von Selbsthilfepotenzialen / Empowerment

Kulturelle Unterschiede: Wahrnehmung von unterschiedlichen kulturellen Konzepten eines Lebens mit oder gegen eine chronische Krankheit. Ernstnehmen und respektieren der Aspekte „Schuld, Scham, Bestrafung, Glaube an Autoritäten“.

Ressourcenstärkung: Entwicklung niedrigschwelliger und kultursensibler Angebote zur Entdeckung und Stärkung eigener Ressourcen (Empowerment) in der Gruppe. Dabei sind Menschen mit Migrationshintergrund und chronischen Erkrankungen auch als TrainerInnen und Co-EntwicklerInnen solcher Angebote mit einzubeziehen.

Disease-Management-Programme (DMP) Die bisher vorliegenden DMPs (u.a. Diabetes) sind auf ihre interkulturelle Eignung hin zu überprüfen und gegebenenfalls entsprechend zu ergänzen. Gerade Diabetes ist eine chronische Erkrankung, die sehr häufig im Zusammenhang von Menschen mit Migrationshintergrund genannt wird. Die Aufnahme weiterer chronischer Erkrankungen in DMPs sollte erwogen werden.

4. Notwendigkeit einer verbesserten Beratung und Information

Beratung: Menschen mit Migrationshintergrund und chronischen Erkrankungen benötigen kultursensible Beratung. Dabei sind auch geschulte BeraterInnen mit Migrationshintergrund und eigener chronischer Erkrankung einzusetzen. Neben einer lebensbegleitenden Beratung sind auch die Beratungen in den Aspekten Sozialrecht, Hilfsmittelversorgung, etc. sinnvoll. Barrierefreie interkulturelle Beratungszentren können dabei eine wichtige Rolle spielen.

Informationsmaterial: Menschen mit Migrationshintergrund und chronischen Erkrankungen (besonders ältere Personen) benötigen eine große Bandbreite an leicht verständlichen mehrsprachigen Informationen: Vereinzelte Informationen in Türkisch sind hilfreich, reichen jedoch nicht aus, da die Anzahl etwa russischsprachiger Personen steigt. Die Homepages der Organisationen im Gesundheitswesen können leicht um mehrsprachige Informationen ergänzt werden.




vorige Seite ** nächste Seite
FP-Gesamtübersicht
Startseite