FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 20. Jahrgang, 1. Halbjahr 2010

Gabriele Lucius-Hoene:
Narrative Identität und Multiple Sklerose**

Ich möchte mich sehr herzlich bedanken für die Möglichkeit, hier über unsere Arbeit zu erzählen, die sehr viel mit narrativer Identität bei Erkrankungen und in diesem Zusammenhang auch mit Multipler Sklerose (MS) zu tun hat. Bei den Methoden, mit denen ich mich beschäftige, wird es sehr wenig um Evidenzbasierung gehen, sondern sehr viel um Erzählen.

Was ich gerne besprechen möchte, ist der Zusammenhang zwischen Identität und Erzählen als etwas, was für uns aus einer psychologisch, soziolinguistischidentitätstheoretischen Richtung unbedingt zusammengehört. Eine Thematik, die sich in den letzten 10 – 15 Jahren entwickelt hat und speziell im Bereich von Krankheitserzählungen einen großen Raum eingenommen hat. Das Stichwort wäre der Begriff der „narrativen Identität“ und was diese narrative Identität sein kann.

Zur Begriffsklärung: Die „narrative Identität“ ist ein Begriff, der zwei Sachen zusammenbringt: Erzählen und Identität. Ich möchte kurz sagen, wie wir Identität im Rahmen einer bestimmten Perspektive verstehen: Eine Perspektive, die die Sprache nicht nur als Abbild, sondern als Konstruktion von Realität versteht und aus einer bestimmten erkenntnistheoretischen Haltung kommt, aus dem symbolischen Interaktionismus und dem Sozialkonstuktivismus. Ich möchte dabei drei Dimensionen unterscheiden:


Die temporale Dimension

Identität ist nicht etwas, was ein Mensch hat, sondern etwas, was ein Mensch immer wieder neu herstellen muss und wozu es einer lebenslangen Arbeit an vielen Fronten bedarf. Identität ist etwas, womit wir eine Kontinuität im Leben herstellen: Ich weiß, wer ich bin, weil ich weiß, wer ich war. Und weil ich weiß, woher ich gekommen bin, habe ich auch die Möglichkeit, mich selbst in die Zukunft hinein zu projizieren. Identität und ein Identitätsgefühl braucht ein bestimmtes Maß an Kontinuität. Dementsprechend kennen wir ja auch die Tatsache, dass Menschen, bei denen durch krasse Verluste oder auch durch Erkrankung ein sehr abrupter Bruch in ihrem Leben stattfindet, mit diesem Kontinuitätsbruch in ihrer Identität schwer zu tun haben.


Die soziale Dimension

Eine zweite Dimension, die für unsere Identität zentral wichtig ist, ist die soziale Dimension. Wir haben unsere Identität ja nicht im Eigenbau nur für uns, sondern Identität ist etwas, was der Rückspiegelung durch unsere soziale Umwelt, durch die wichtigen Personen in unserem Umkreis notwendig ist. Sie muss ausgehandelt werden, wir können sie reklamieren, wir können eine bestimmte Identität beanspruchen, aber wir müssen sie auch immer im Umgang mit den Menschen in unserem Umfeld bestätigt finden. Unser Umfeld muss bereit sein, in unserem Identitätsspiel mitzuspielen.






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