FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 20. Jahrgang, 1. Halbjahr 2010




Die selbstbezügliche Dimension

Der dritte Aspekt ist die selbstbezügliche Dimension: Um an meiner Identität zu arbeiten, muss ich in meinem Selbsterleben, in meiner Selbstverständigung und in meiner Selbstbewertung in der Lage sein, mich zu mir stellen zu können, an mir arbeiten zu können, mich auch selbst wertschätzen zu können. Dies ist eine ganz wichtige Voraussetzung für Identitätsarbeit, denn wenn das nicht gegeben ist, dann werde ich hier in einem ganz hohen Maße verunsichert sein.

Temporal, sozial und selbstbezüglich sind die wichtigen Dimensionen, in denen ich meine Identität immer wieder und kontinuierlich herstellen muss, über alle Veränderungen in meinem Leben hinweg. Was hat das Ganze mit Erzählen zu tun?

Die moderne narrative Identitätstheorie geht davon aus, dass Identität sich vor allen Dingen in narrativen, erzählenden Strukturen reproduziert, rekonstruiert und entwickelt. Warum narrativ, warum erzählen? Erzählen ist etwas, was in unserem Alltag permanent vorhanden ist und überall stattfindet. Erzählen ist etwas, was einerseits sehr trivial ist, andererseits ganz genial. Im Erzählen kann ich etwas, was nicht ..hier und jetzt ist, sprachlich wieder ..hier und jetzt relevant machen.

Erzählen hat immer etwas mit zeitlichem Verlauf und wieder hereinholen von einem anderen Zeitpunkt in die momentane Zeit zu tun. Wir erzählen, indem wir aus dem amorphen Zeitfluss, in dem wir uns permanent bewegen, einen Zeitabschnitt herauslösen, dem einen Anfang und ein Ende setzen und so etwas wie einen Kulminationspunkt in der Mitte, der meistens den Anlass des Erzählens repräsentiert. Wir müssen eine sinnhafte Verknüpfung der einzelnen Aspekte, über die wir erzählen wollen, hinkriegen. Diese Verknüpfung ist meistens eine zeitliche, das ist passiert, weil das passiert ist oder die Verknüpfung ist kausal oder sie ist final. Die Verknüpfung findet statt durch eine bestimmte Bedeutung, die wir ihr verleihen, eine Art Moral oder eine Botschaft, die diese Geschichte transportiert. Die Geschichte wiederum ermöglicht, dass ich einen Bedeutungshorizont in die Zukunft hinein setzen kann, dass ich weiß, wie ich mich handelnd orientieren kann, weil ich weiß, wie ich meine Geschichte erlebt habe und mich auch in die Zukunft projizieren kann.

Kurz zusammenfasst: Die Tatsache, dass wir permanent erzählen können, dadurch, dass wir Vergangenheit in eine Struktur bringen, können wir Ordnung in unserem Erlebens-Chaos schaffen, wir formen diese Struktur, wir verknüpfen sinnhaft und wir schaffen eine Perspektive. Wir schaffen Bedeutung für aktuelle Handlungen, aber auch für unsere ganzen biographischen Erfahrungen. Da wir ja immer, wenn wir erzählen, auch uns selbst in diesen Erzählungen schaffen müssen, schaffen wir ein Ichgefühl und leisten damit Identitätsarbeit. Wir können uns damit selber vergewissern, dass wir eine Geschichte haben und dass wir Akteur in einer Geschichte sind. Wir tauchen in diesen Geschichten auf. Zusammenfassend könnte man also sagen, die narrative Identität, ein Schlüsselbegriff in der modernen Identitätstheorie, ist die Art und Weise, wie ein Mensch konkret in zwischenmenschlichen Begegnungen diese Identitätsarbeit durch das Erzählen durch narrative Konstruktionen von jeweils situativ relevanten Aspekten seiner Identität leistet - wie ich mich also jeweils in einer bestimmten Situation als Individuum in meiner Erzählung erkenntlich mache. Diese vielen kleinen Identitätsarbeiten, die wir in unseren Interaktionen leisten, gehen in die Erfahrungsgeschichte ein, die wir dann schließlich als unsere Biographie verstehen, reflektieren und erzählen können.

Für Menschen mit einer Multiplen Sklerose gilt das natürlich genauso. Man könnte aber sagen, gegenüber anderen, die nicht mit dieser Erkrankung leben, gibt es bestimmte schwierige Voraussetzungen für die Identitätsarbeit und deswegen ist sie auch so zentral, wie wir ja auch schon vorhin im Vortrag von Herrn Henningsen für psychotherapeutische Ansätze gehört haben. Die temporale Dimension ist dadurch sehr stark betroffen, dass die Erkrankung schwer prognostizierbar ist: wie wird die Remission sein? Werde ich, wenn der Schub vorbei ist, Verluste beklagen müssen oder habe ich eine Chance, wieder in meinem Leben da anknüpfen zu können, wo ich vor dem Schub war. Es herrscht eine totale Verunsicherung in der menschlichen Grundversicherung, die darin besteht „ich werde morgen derselbe sein, der ich auch heute bin“. Für den Patienten mit der MS gilt dies immer nur sehr kurzfristig und immer nur sehr bedingt. Es ist immer gefährdet und kann sich jederzeit ändern.

Der Mensch mit der MS hat auch besondere Schwierigkeiten in der sozialen Dimension: die rückspiegelnde Umwelt, die wir für den sozialen Aspekt unserer Identität brauchen, ist häufig selber sehr stark verunsichert. Zum einen betrifft es den Menschen mit MS selber, er ist verunsichert mit der Erkrankung. Er ist verunsichert im Hinblick auf die Frage, wie sozial verlässlich bin ich noch durch meine Erkrankung? Wie gehe ich mit den sozialen Verlusten um, die ich erlitten habe? Aber auch die Umwelt ist einem chronisch Kranken gegenüber in der Frage verunsichert, wie ich ihn behandeln kann. Wie sehr kann ich mit ihm eine gemeinsame Normalität zugrunde legen oder wie sehr muss ich ihn als jemand anders erleben?

Die Kommunikation kann erschwert sein, und die Interaktion mit den helfenden Institutionen, sprich mit Ärzten und Therapeuten kann sehr problematisch und selbstwertbedrohend sein: Es existiert ein Dilemma zwischen sich helfen lassen müssen und auf der anderen Seite sich gegen Übergriffe der Institutionen wehren zu müssen. Im Hinblick auf die Selbstbezüglichkeit müssen immer wieder Kontroll-Kompetenz-Einbußen hingenommen werden. Die MS-Symptome können selber selbstwertbedrohend sein und auch das trägt zur Selbstverunsicherung bei. Auf der anderen Seite – das wird aus den vielen Krankheitsgeschichten, die wir von Patienten mit MS haben, klar – gibt es auch eine Identitätsressource: Die Erkrankung führt bei vielen Menschen zu einer besonderen Form von Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung. Wir haben vorhin dieses Stichwort des „personal growth“ gehört. Ich glaube, das kann man sehr ernst nehmen und gerade in den Krankheitsgeschichten auch sehr gut ausbuchstabieren. Die eigen-sinnige Interpretation (der Bindestrich ist Absicht), die Möglichkeit, die eigene Lebenswirklichkeit auch als eine eigene Erfahrungsform und eine eigene Erfahrungswelt zu verstehen und zu vermitteln, ist gegeben. Und ich muss sagen, wenn ich Menschen suche, die hohe Kompetenzen in kreativen Problemlösungen haben, dann finde ich die unter Patienten mit MS in einer ganz beeindruckenden Art und Weise. Deshalb habe ich mir angewöhnt, in sogenannten Psychotherapien (ich finde das keinen glücklichen Begriff) dem Patienten immer zu sagen „ich sitze hier eigentlich nur in der Funktion, Ihnen das zu vermitteln, was ich von anderen erfahren habe, die mit derselben Erkrankung leben, denn die wissen, wie es geht. Die haben die Erfahrung, und die haben auch diese Kompetenzen entwickelt.“




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