FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 20. Jahrgang, 1. Halbjahr 2010




Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass auch die Krankheitserzählungen, das Sprechen über die Erkrankung, Teil der Identität sind und nicht davon getrennt werden sollten. Es gibt nicht den Menschen und isoliert davon seine Krankheit, von der er erzählt. Es gibt aber auch nicht nur die Krankheit. Sie ist ein integraler Teil, sie macht aber nicht den ganzen Menschen aus, sondern sie ist in einer spezifischen und oft sehr kreativen Weise mit ihm verwoben. Auf der einen Seite können wir sie verstehen als etwas, was eingeht in ein lebensumspannendes Narrativ, das der Mensch zu seiner Erkrankung hat, was also seine biografische Identität ausmacht. Auf der anderen Seite ist Krankheit zu verstehen als etwas, das sich in alltäglichen Kommunikationen mit anderen Menschen als die kleine narrative Identitätsarbeit niederschlägt, als das, was er als Identitätsprojekt immer wieder in jeder Interaktion, wie jeder andere Mensch auch, neu verhandelt. Wir alle kommen nicht aus dieser permanenten narrativen Identitätsarbeit raus.

Ich möchte jetzt einen kleinen Ausschnitt aus einer Forschungsarbeit zitieren, in dem man zeigen kann, wie Menschen die Krankheit in ihre Lebensgeschichte auf verschiedene Weise einweben. Diese Geschichte ist ein lebensumspannendes großes Identitätsprojekt einer 40-jährigen Frau, die als Journalistin gearbeitet hat, und die auch jetzt noch arbeitet, wenn es die Krankheit zulässt. Sie hat die Krankheit in ihre lebensgeschichtliche Erzählung in einer Weise eingebaut, so dass sie sozusagen der zentrale Aspekt ihres Identitätsprojektes ist. Sie erzählt:

„das einzige, was ich weiß ist, dass ich immer schon ein Kämpfer war. Schon als ich ein Baby war, hat meine Mutter mir gesagt, ich war immer wie so ein kleiner Tiger, die Jungs, die Brüder waren brav und ich wäre rotzefrech gewesen. Ich war das einzige Mädchen zwischen zwei Brüdern, ich bin mit zwei Brüdern groß geworden und ich musste kämpfen. Und ich war also ein Trotzkopf damals, ich habe es keinem einfach gemacht. Weder den netten Mädchen, die mich spazieren geführt haben, noch meiner Mutter, noch meinen Brüdern. Und also das habe ich, sagen wir mal, in die Wiege gelegt bekommen, vielleicht, sonst könnte ich mir das nicht erklären. Das ist einfach in mir drin. Da tue ich nichts für. Also ich mach auch kein Yoga oder so was. Ich habe eine wahnsinnige Lifeforce mitbekommen in die Wiege, das ist da, das spüre ich an manchen Tagen direkt, als wenn’s was wäre zum Anfassen. Und da bin ich auch verdammt stolz drauf, wenn ich das mal so sagen darf. Also ich glaube, ich kann eine Menge vertragen, sagen wir mal so, ohne dass mir das jetzt jemand sagt. Also das spüre ich einfach, also egal was passiert, das passiert mir jetzt, weil ich, ich habe das vorhin schon mal gesagt, ich glaube nicht an Zufälle, ich glaube schon, dass ich das bekommen habe, weil ich das abkann.“

Ein Text, der mich immer wieder in der Art und Weise fasziniert, wie sie das Konfrontiert-Sein mit der Krankheit in ihre eigene Lebensgeschichte so einbaut, dass es für sie wirklich zu einer Identitätsressource wird, mit der sie viele Verunsicherungen der Krankheit in einer sehr produktiven Weise überwinden kann.

Also, was leistet das Erzählen? Zur Orientierung kommt die Handlungsermächtigung, es kommt die Möglichkeit, Identitätsprojekte immer wieder anzupassen, aber auch weiter zu bringen. Die Erzählung ermöglicht viel symbolische Wiedergutmachung: die mittlere Geschichte mit den roten Flecken ist ja so etwas wie eine Wiedergutmachung und Wiedereinsetzung der eigenen Autonomie in eine Situation, in der die Patientin sich ja selber sehr abgewertet gefühlt hat. Sonst wären diese Telefonanrufe nicht in die Geschichte geraten, wenn sie die nicht so erlebt hätte.

Erzählen wirkt gegen die Fragmentierung und Dekontextualisierung, die gerade in der medizinischen Therapie sehr oft den Umgang mit der lebensweltlichen Wirklichkeit von Menschen sehr schwer machen, weil es immer wieder den Kontext liefert, in dem ein Mensch lebt. Genau das kann man nutzen, um so etwas wie eine narrative Unterstützung im medizinischen Kontext vorzunehmen. Auch von Therapeutenseite kann man diese Idee dieser narrativen Unterstützung immer wieder einbringen und zwar von der Pflege, von den Funktionstherapien, von ärztlicher Seite. Jeder, der mit dem Menschen zu tun hat, kann sozusagen aktiv und förderlich an einem Narrativ mitwirken, in dem dieser Mensch sich wiederfinden kann.

Man kann bewusst die kleinen Erlebnisse und Begebenheiten in den Therapien als Aufwertung und Bewahrung dieser Erfahrungen narrativ „rahmen“, indem man die Geschichtenhaftigkeit darin herausarbeitet. Zum Beispiel, indem man immer wieder an den Fragen arbeitet: Wo hat es angefangen? Was ist die wichtige Botschaft? Wie hat es aufgehört? Ich habe gerade, was Anfangs- und Endpunkte einer Geschichte anbelangt, letzte Woche eine nette Begebenheit mit einer Patientin, einer ganz jungen Frau noch, gehabt, die seit längerer Zeit mit einer schweren Verlaufsform von MS wöchentlich zu mir kommt. Letzte Woche kam sie und sagte „ich bin völlig groggy, ich hab.. den ganzen Sonntag nur im Bett gelegen. Es war furchtbar, ich konnte gar nichts mehr auf die Reihe bringen.“

Da ich aber ihren Lebenskontext kannte und wusste, was davor gewesen war, habe ich gesagt:

„Sie können die Geschichte so erzählen, sie können sie aber auch anders erzählen. Und wenn Sie ein bisschen früher anfangen, nämlich drei Tage früher, dann haben wir noch mit drin, dass sie am Samstag vorher und am Freitag den 75. Geburtstag Ihres Vaters mitgestaltet haben und das Ganze organisiert und mitgefeiert haben und dann ist es doch eigentlich was ganz anderes, wenn sie am Sonntag platt sind.“

Und das hat sie sofort eingesehen und hat gelacht und hat gesagt ja klar, so kann man es auch sehen. Ich möchte noch ganz am Schluss eine besondere Art des Erzählens erwähnen: Wir sind dabei, eine Webseite aufzubauen, die im April in einer Vorversion ins Netz geht. Sie heißt www.krankheitserfahrungen.de und ist die deutsche Variante der englischen Seite www.healthtalkonline. org, in der wir die erzählten Krankheitserfahrungen von Menschen mit einer jeweils bestimmten Krankheit sammeln und in offenen Interviews, die von den Patienten gestaltet werden, auf Band aufnehmen und dann systematisch auswerten. Die Interviews werden so aufbereitet, dass sie von Betroffenen im Netz genutzt werden können. Hier sehen Sie die Startseite.

Wir fangen mit den beiden Erkrankungen chronischer Schmerz und Diabetes Typ II an. Diabetes Typ II wird vom Göttinger Teil der Arbeitsgruppe gemacht. Wir bereiten die Interviews so auf, dass sie nach Themen geordnet werden können. Es geht um die Erfahrungen der Betroffenen mit ihrer Erkrankung, möglichst breit gestreut, so dass viele unterschiedliche Erfahrungen erfasst werden können. Es geht vor allen Dingen um das Leben mit der Erkrankung und nicht um evidenzbasierte Verfahren. Es geht darum: Was habe ich ganz konkret erlebt? Wie habe ich es mit der Familie verhandelt? Was hat es für mich für Auswirkungen für den Beruf gehabt? Wie habe ich mit einer bestimmten Therapie welche Erfahrungen gemacht? Das kann man sich thematisch geordnet anschauen oder anhören – als Original Video oder Audio oder Text. Man kann unmittelbar selber das nachvollziehen, was Patienten erzählen. Wir planen im Moment ein Modul über MS, weil wir denken, dass es eine Gruppe von Menschen ist, die sowohl sehr viel zu sagen hat, als auch untereinander sehr viel mitzuteilen und auszutauschen hat. Wir hoffen, dass wir in absehbarer Zeit die Finanzierung dafür bekommen. Damit möchte ich schließen und ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bedanke mich auch bei der Erzählerin und bei Cornelia Kuhlemann, die das Interview geführt hat, aus dem ich heute das Zitat vorgetragen habe.



* Die Mitschrift wurde bearbeitet von
H.- Günter Heiden




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