FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 23. Jahrgang, 1. Halbjahr 2013

Das Bild von MS

Beiträge von LeserInnen

In der letzten Ausgabe von FORUM PSYCHOSOMATIK haben wir unter der Überschrift „Unabwägbar, unreflektiert, unbekannt – Thesen zum schlechten Ruf der MS“ zur Diskussion aufgerufen. Hier nun zwei Beiträge unserer LeserInnen dazu.

Ihr Artikel „Unabwägbar, unreflektiert, unbekannt – Thesen zum schlechten Ruf der MS“ in FORUM PSYCHOSOMATIK 1–2012 fordert mich geradezu zu einer Antwort heraus! Ihre erste und zweite These teile ich1. Um die zweite These zu untermauern, wären sicherlich sozialwissenschaftliche Unter-suchungen – soweit es sie noch nicht gibt, dies habe ich bisher nicht überprüft – wünschenswert. Nach den Erfahrungen und Erzäh-lungen in meiner eigenen Herkunftsfamilie hege ich zumindest den Ver-dacht, dass diese These einer ge-wissen Logik nicht entbehrt. Meine eigenen Eltern (Jahrgang 1931 und 1934) waren während des Zwei-ten Weltkrieges noch Kinder. Ob-wohl nie offen darüber gesprochen wurde, hatte ich schon in meiner ei-genen Jugendzeit das Gefühl, dass diese Generation auf sehr subtile Weise, unterbewusst, mit national-sozialistischem Gedankengut infiltriert und indoktriniert wurde – sei es durch die Generation ihrer Eltern (meiner Großeltern), durch die Schule und/oder die nationalsozialistischen Jugendorganisationen. Solche Einstellungen übertragen sich vermutlich nicht nur durch Äußerungen über MS auf nachfolgende Generationen. Auch antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen wurden wahrscheinlich auf ähnliche Art und Weise in dieser Zeit auf die nachfolgenden Generationen übertragen und leben bis heute im kollektiven und individuellen deutschen Unterbewusstsein fort.

Ihre dritte These sehe ich allerdings etwas differenzierter. Es hängt sicherlich individuell sehr stark vom eigenen Umgang mit der Krankheit und Behinderung, aber auch vom eigenen Gesundheitszustand bzw. Stadium dieser Erkran-kung ab, ob man ihren Ruf als zu schlecht empfindet oder nicht. Es ist sehr relativ, ob ich das Glas als halb voll oder als halb leer betrachte. Auch ich kenne viele Menschen, „die schon lange mit wenigen Beeinträchtigungen mit ihrer MS leben und kaum Einschränkungen ihrer Lebensqualität hinnehmen müssen.“ Ich kenne aber auch viele Menschen, denen es mit „ihrer“ MS sehr schlecht geht und die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte sehr viele Beeinträchtigungen und Einschränkungen ihrer Lebensqualität hinnehmen mussten. Zu diesen Menschen zähle ich mich mittlerweile auch. Ihre Aussage, dass es Ihnen (mit Rollstuhl) „wunderbar ginge und alles kein Problem sei“ kann ich daher für mich ganz und gar nicht teilen.

Auch für mich ist der Rollstuhl zwar mittlerweile ein mehr oder weniger bequemes Fortbewegungsmittel geworden und keine „Horrorvision“ mehr. Ich habe die MS angenommen, aber mich nicht mit ihr abgefunden. Das ist ein großer Unterschied. „Angenommen“ heißt für mich, dass ich den momentanen Zustand so akzeptiert habe, wie er ist. Ich habe aufgehört, dagegen zu kämpfen. Der Mensch ist meiner Ansicht nach in erster Linie ein geistiges bzw. seelisches Wesen, das auf diesem Planeten und in diesem Leben eine körperliche Erfahrung macht. Für den „Wert“ und die „Liebenswürdigkeit“ eines Menschen ist es völlig unerheblich, ob dieser im Rollstuhl sitzt und umher fährt oder sich als Fußgänger oder als Marathonläufer bewegt.

Das bedeutet aber nicht, dass ich diesen Zustand mit MS und Rollstuhl als „Ideal-Zustand“ betrachte oder beschreiben würde. Ich bin jetzt 50 Jahre alt und habe die ersten 25 Jahre davon ohne und die anderen 25 Jahre mit (langsam zunehmenden) MS-Symptomen gelebt – obwohl die endgültige, offizielle Diagnose erst 2002, also vor zehn Jahren, gestellt wurde. Auch wenn der Mensch in erster Linie ein geistiges oder seelisches Wesen ist: Ich fand die körperlichen Erfahrungen ohne MS wesentlich angenehmer und schöner als die mit MS (und Rollstuhl!). Denn mal ehrlich: sind nicht – unabhängig von der Unfähigkeit, den eigenen Körper in der gewünschten, einem gesunden Körper entsprechenden Art und Weise bewegen zu können – „fehlende Rollstuhltoiletten“, mangelnde Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr, der versperrte Zugang zu Kinos, Restaurants und Theatern sowie die Wahrnehmung der eigenen Person durch andere als „Rollstuhl mit Inhalt“ und „geschlechtsneutrales Wesen“ immer wieder anstrengende und zuweilen auch demütigende und/ oder verletzende Erfahrungen? Würden Sie nicht auch eines Tages gerne wieder gehen, laufen, Sport treiben und am sozialen Leben, egal ob mit oder ohne Barrieren, teilnehmen können?

Ich würde dies alles und noch viel mehr gerne wieder tun können. Daraus mache ich keinen Hehl. Darum sollte nach meinen Vorstellungen das oberste Ziel jeglicher MS-Forschung, auch und vor allem der psychosomatischen, die Suche nach Wegen und Methoden einer wirklichen Heilung sein. Auch wenn diese von der Schulmedizin und den meisten „Betroffenen“ in das Reich der Märchen und Fabeln verwiesen wird, glaube ich fest daran, dass eine solche Heilung eines Tages möglich sein wird. Ohne diesen Glauben und diese Hoffnung hätte ich die vielen Jahre mit dieser Erkrankung vermutlich nicht überlebt

Diese Krankheit ist eine sehr ernst zu nehmende, gravierende, zurzeit leider noch als „unheilbar“ geltende chronische Krankheit mit zuweilen drastischen gesundheitlichen, beruflichen, familiären, finanziellen und sozialen Konsequenzen, die nicht unterschätzt oder gar herab gespielt werden sollten.





voriger Artikel ** nächster Teil
FP-Gesamtübersicht
Startseite