FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 23. Jahrgang, 1. Halbjahr 2013

Experten


von Bernd Hontschik

Vor einiger Zeit hatte ich auf eine Röntgenanforderung aus Versehen „linkes Sprunggelenk“ geschrieben, obwohl das rechte Sprunggelenk des Patienten verletzt war. Im Halbdunkel des Röntgenraumes und unter dem Druck von zehn weiteren Patienten in der Warteschlange entging auch meiner Röntgenassistentin die Seitenverwechslung, und als ich auf dem Bildschirm die Bescherung bemerkte, war ich sprachlos: „Warum haben Sie denn nichts gesagt?“, fragte ich den Patienten. „Wenn Sie meinen, dass das rechte Sprunggelenk geröntgt werden muss, dann wird das schon stimmen“, antwortete mir der Patient. Das blinde Vertrauen von Patienten überrascht mich immer wieder. Für meinen Irrtum bat ich um Entschuldigung.

Das Knie einer älteren Patientin schmerzte sehr. Im Untersuchungsraum schaute ich es mir genau an, fragte nach dem Beginn der Beschwerden, nach der Art derSchmerzen. Als ich wissen wollte, was sie bisher unternommen habe, fing sie heftig an zu weinen, aber nicht wegen der Schmerzen. Sie ginge seit über zwei Jahren zu ihrem Orthopäden, habe zehn Spritzen ins Kniegelenk bekommen, jetzt könne man sie nicht mehr weiter behandeln, wurde ihr dort gesagt. Sie weine, weil ihr endlich jemand zuhöre. Ihr größtes Problem sei, dass sie in einer Altbauwohnung im vierten Stock wohne. Im weiteren Gespräch über Bandagen, Gehhilfen und Krankengymnastik wurde sie immer ruhiger und zuversichtlicher.

Die weit verbreitete Sprachlosigkeit zwischen Arzt und Patient ist schädlich und krankheitsfördernd. Noch weiter verbreitet ist aber die mangelnde Verständigung über das Ziel der medizinischen Behandlung. So sind zum Beispiel laut einer US-amerikanischen Untersuchung über 70 Prozent der Ä rzte der Meinung, es habe für Brustkrebspatientinnen die allerhöchste Priorität, dass ihre Brust erhalten bleibe. Das trifft so aber nur für sieben Prozent der Patientinnen zu, die Angst vor den Auswirkungen der Behandlung und der Wunsch, am Leben zu bleiben, ist den erkrankten Frauen wesentlich wichtiger.

Je größer und je schwerwiegender eine Therapieentscheidung ist, desto genauer müssten Arzt und Patient sich über die individuellen Bedingungen des Lebens der Erkrankten austauschen. Der Arzt ist Experte für medizinisches Wissen und Therapiemöglichkeiten. Der Patient aber ist alleiniger Experte für sein Leben. Eine große Gefahr für Patienten besteht also nicht allein in Behandlungsfehlern oder Fehldiagnosen, sondern in grundlegenden Missverständnissen zwischen Arzt und Patient über das Ziel der Behandlung.


chirurg@hontschik.de
www.medizinHuman.de


(Quelle: Frankfurter Rundschau; Samstag, 1.12.2012)






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