Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/98

Teil 5: »Alles gleich gültig und nichts gleichgültig« Erzählen von Krankheit und Behinderung - von Gabriele Lucius-Hoene

Ganz besonders fruchtbar erscheint mir ein erzählerischer Zugang zu Erfahrungen von Krankheit und Behinderung. Der amerikanische Medizinanthropologe Kleinman erzählt hierzu ein Schlüsselerlebnis aus seiner Studentenzeit (Kleinman 1988, XI-XII): er mußte jeden Tag bei einem Mädchen, das schwere Brandverletzungen erlitten hatte, beim sehr schmerzhaften Abtragen der abgestorbenen Gewebspartien helfen und versuchte dabei verzweifelt und völlig erfolglos, das Kind von seinen Qualen abzulenken. Völlig resigniert und ratlos forderte er sie eines Tages auf, zu erzählen, wie sie das Ganze erlebe, und stellte fest, daß es ihr offensichtlich große Erleichterung brachte, ihre Erfahrung in Worte zu fassen. Er nahm diese und ähnliche Erfahrungen zum Anlaß, den »illness narratives«, den persönlichen erzählerischen Auseinandersetzungen mit Krankheit den Status eines eigenständigen Forschungsbereichs zu verleihen. Die Fruchtbarkeit einer solchen Perspektive zeigt sich mittlerweile in einer Fülle von empirischen Arbeiten aus den letzten Jahren zum Erleben der verschiedensten Bereiche körperlicher Störungen (zum Überblick s.a. Hyden 1997) - allerdings sind sie mit wenigen Ausnahmen (z.B. Hanses 1996, Lucius-Hoene 1997) außerhalb der Psychologie entstanden.

Im Erzählen der Betroffenen thematisiert sich das Erleben der Leiblichkeit in ihrer physischen und sozialen Komponente, die Erfahrung des »Nicht-mehr-könnens«, der Hilfsbedürftigkeit, der Abhängigkeit, der Verluste im Alltag und in den Lebensplänen. Hier läßt sich auch ablesen, welche Haltung die Betroffenen zu der Krankheit oder Behinderung einnehmen: wann sie sich als Opfer eines schicksalhaften Geschehens, und wann als Mitgestalter ihres Lebens fühlen; wie sie die Beeinträchtigung in ihrer Identität und Wirklichkeitserfahrung verarbeiten und in welche Sinnzusammenhänge sie sie einordnen.

Welche Verwendungsmöglichkeiten, welche Funktionen lassen sich nun dem Erzählen innerhalb der Rehabilitationspsychologie zuordnen? Ich sehe hier drei Ansätze, die ich als den therapeutischen, den didaktischen und den forschungsmethodischen beschreiben möchte.

Die erste, die therapeutische Funktion des Erzählens vollzieht sich vor jeder wissenschaftlichen Funktionalisierung. In allen therapeutischen Verfahren, in denen die sprachliche Kommunikation dominiert, findet Erzählen statt. Seine heilsame Wirkung läßt sich aus erzähltheoretischer Sicht auf drei Ebenen plausibilisieren (glaubhaft machen, d. Red.).

Zum einen ist Erzählen, wie vorhin schon beschrieben, ein Prozeß der Kohärenzbildung, der Herstellung eines inneren Bedeutungszusammenhangs. Aus Beliebigem, nicht Integriertem, Traumatischem wird durch die erzählerische Auswahl und Aufbereitung eine Sinnstruktur erzeugt, die an Vergangenes und Bekanntes anknüpfen und sich in die Zukunft entwerfen kann. Durch die Einbindung traumatischer oder ambivalenter Erfahrungen in einen erzählerischen Zusammenhang wird Kontinuität hergestellt, die eine existentielle Zukunftsperspektive ermöglicht. Nicht zufällig entsteht hier die Assoziation mit Antonovsky`s »sense of coherence« , dem Kohärenzsinn des Menschen, dem er eine zentrale gesundheitswahrende Funktion zuschreibt.

Zum zweiten kann in der Therapie ein Raum hergestellt werden, in dem sich die Erfahrungsgeschichten neu erzählen, zu neuen Strukturen und Begründungszusammenhängen ordnen lassen. Roy Schafer (1992) beschreibt so den psychoanalytischen Prozeß als ein »retelling of life«. Neben der dominanten, der Neurose oder der körperlichen Leidensgeschichte verhafteten Erzählung können andere Geschichten entstehen, die »hundert möglichen Biographien« des M. Pontalis, die den tragischen Mythos relativieren, in vielfältige Bedeutungsfacetten auflösen, als diktatorische Festschreibung des Geschehenen quasi verflüssigen und entmachten können.

Aber nicht nur die Zwänge der eigenen privaten Geschichte können relativiert werden. Auch die Herrschaft der ärztlichen Expertengeschichte, in die der Betroffene als Patient eingepaßt wird, kann durch die Schaffung oder Wiedererweckung der eigenen Geschichte gebrochen werden: dem gebieterischen Sog der medizinischen Fallgeschichte, die dem Patienten nur dann Heilung oder Besserung verheißt, wenn er die ärztlichen Handlungsvorschriften übernimmt, kann er seine eigenen Prioritäten und Bedeutungen entgegensetzen. Mit der Fülle an Geschichten, die er für seine Erfahrungen zur Verfügung hat, wachsen aber auch seine Bewältigungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume. Hier kann es eine Aufgabe des Rehabilitationpsychologen sein, zwischen den konkurrierenden Geschichten von Arzt und Patient zu vermitteln.

Eine dritte therapeutische Wirkung des Erzählens knüpft an seiner Sozialität an. Damit meine ich nicht nur die tröstliche Funktion eines empathischen (einfühlenden, d. Red.) Zuhörers, sondern vor allem die Tatsache, daß das Auffinden und Herstellen einer Erzählform immer auch Einbindung des Erfahrenen in sozial geprägte und vermittelbare sprachlich-kognitive Muster beinhaltet. Indem wir für die Erfahrung eine sanktionierte Geschichtenform finden, hört sie auf, vereinzelndes Schicksal zu sein, bindet sie sich in eine kollektive, eine geteilte Erfahrung ein, findet sie eine anerkannte Formel für das eigentlich Unsagbare. Einen geradezu systematischen Einsatz dieser sozialen Funktion beschreibt Cain (1991) bei der Analyse von Lebensgeschichten, wie sie innerhalb von Gruppen der Anonymen Alkoholiker erzählt werden.

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