Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/98

Teil 6: »Alles gleich gültig und nichts gleichgültig« Erzählen von Krankheit und Behinderung - von Gabriele Lucius-Hoene

Die Autorin zeigt auf, wie neugewonnene Mitglieder der AA durch die modellierende und korrigierende Wirkung der Gruppe lernen, ihre eigene Lebens- und Suchtgeschichte immer mehr einem bestimmten Genre von Alkoholkrankheitsgeschichte anzupassen, sich in das von der Gruppe bereitgestellte, sanktionierte Muster einzuordnen und damit in die stützende Gemeinschaft einzubinden.

All diese möglichen heilsamen Wirkungen des Erzählens sind natürlich nicht auf die therapeutische Situation angewiesen; ich denke aber, sie können hier bewußt als Wirkfaktoren wahrgenommen und genutzt werden. Gerade die Kommunikation im medizinischen Setting ist ja, wie viele Untersuchungen zur Arzt-Patienten-Interaktion zeigen, häufig darauf angelegt, durch entsprechende Dialogstrategien ein Erzählen des Patienten zu verhindern (Bliesener 1980), weil es die knappe Ressource Zeit überstrapaziert und im ärztlichen Sinne wenig informativ ist. Erst in jüngster Zeit werden die narrativen Elemente in der klinischen Kommunikation bewußt wahrgenommen (Charon 1989, 1993). Hier begründet sich die wichtige Aufgabe eines psychologischen Dienstes, dem Erzählen auch im medizinischen Kontext Raum zu verschaffen und Erzählmöglichkeiten zu bieten.

Dem Therapeuten auf der anderen Seite bieten die Erzählungen seiner Patienten einen hervorragenden Zugang zu dem ganz spezifischen biographischen Stellenwert der körperlichen Einschränkungen. Mit dem Rehabilitationstherapeuten als Zuhörer reproduziert die autobiographische Erzählsituation genau die Konstellation, die strukturell das ganze Unternehmen Rehabilitation kennzeichnet: beide konstituieren sich im Spannungsfeld zwischen Individuum und Sozialität. So wie der Rehabilitationsprozeß vermitteln muß zwischen Möglichkeiten, Bedürfnissen und Ansprüchen des geschädigten Individuums einerseits und der Unterstützungsbereitschaft der Gesellschaft und ihren normativen Forderungen andererseits, so ist auch das Erzählen ein Prozeß der Aushandlung zwischen individuellen Selbstdarstellungsbedürfnissen und dem Bedarf nach ihrer sozialen Ratifizierung, ihrer Anerkennung durch den Zuhörer als Vertreter der signifikanten anderen. Im autobiographischen Erzählen von Behinderung und Streben nach Normalität manifestieren sich genau die Lösungsversuche des Individuums, die es in den konfligierenden ( in Konflikt geratenden, d. Red.) Ansprüchen zwischen Hilfsbedürftigkeit und Autonomie anstrebt, also genau diejenigen, die für den Rehabilitationsprozeß von zentraler Bedeutung sind.

Der Kampf des Erzählers um biographische Gestalt und Identität, seine latenten Konflikte und Widersprüche zwischen Wollen und Können, Einsicht und Hoffnung bieten dem Zuhörer Ansatzpunkte für Problemanalyse und kreative Potentiale, die für die Planung und Gestaltung des Rehabilitationsprozesses von großer Hilfe sein können.

An der Bereitschaft, das Erzählen des Patienten ernstzunehmen, setzt auch die zweite Möglichkeit des Umgangs mit Erzählungen, die didaktische Funktion, an. Eine Einübung in erzähl- und gesprächsanalytische Techniken kann eine wichtige Ergänzung für Ausbildung und Supervision in Psychotherapie und Rehabilitationspsychologie bieten. Über den Einblick in die subjektiven Welten und kommunikative Prozesse hinaus entwickelt und fordert der Umgang mit Texten auch weitere nützliche Kompetenzen: die Bereitschaft, sich den Gegenstand des Interesses nicht für einen vorgegebenen methodischen Zugriff zuzurichten, sondern sich ihm anzupassen, dem Detail Beachtung zu schenken, in dem bekanntermaßen nicht nur der Teufel, sondern auch der liebe Gott steckt, und somit, um mich hier der Worte des Dichters Adolf Muschg (1995, 105) zu bedienen, ernstzunehmen, daß »alles gleich gültig und nichts gleichgültig ist«.

Für den dritten Anwendungsbereich, die Forschung, lassen sich mithilfe des narrativen Interviews (Schütze 1977, Hermanns 1991) Daten gewinnen, die auf die klassischen Themen der Rehabilitations-, der medizinischen und der Gesundheitspsychologie ein neues Licht werfen können. Lebensqualität, kritische Lebensereignisse, Bewältigung und subjektive Krankheits- oder Gesundheitstheorien lassen sich aus den Erzählungen der Betroffenen herausarbeiten, ohne konzeptuell vorgeprägt und kategorial eingeengt zu werden. Die für den Erzähler bedeutsamen Erfahrungen und Begriffe erhellen sich in ihren jeweiligen Funktionszusammenhängen; Widersprüchliches, Ambivalentes, Vages im Erleben und Handeln bleibt in seiner schillernden Vielfalt erhalten und kann sich sogar als sinnvolle Umgangsweise mit einem Problem erweisen. Im Erzählen lassen sich die für die Forschung relevanten psychischen Prozesse in ihrem Vollzug beobachten: Der Erzähler, der sich mit seiner Krankheitserfahrung auseinandersetzt, nimmt nicht zu einem Item (Einzelangabe, d.Red.) eines Katalogs von Copingstrategien Stellung, sondern er praktiziert Bewältigung; er zählt nicht nur Ressourcen (eigene Fähigkeiten, d. Red.) auf, sondern er setzt sie ein; er ordnet sich nicht in ein Beschreibungsraster ein, sondern er erprobt sich als Person.

So kann die Aufgabe einer erzähltheoretisch-interpretativen Forschung zum einen darin liegen, für diese altbekannten Themen neue Phänomene und Perspektiven einzubringen, zum anderen darin, auf die Gefahr einer quantifizierenden Forschung hinzuweisen, die Vielfalt und Widersprüchlichkeit ihres Erkenntnisgegenstands zugunsten der Operationalisierung und Meßbarkeit ihrer Konstrukte zu opfern. Dieses innovatorische (Neuerungen schaffende, d.Red.) und kritische Potential sollte als Ergänzung und Herausforderung bestehender Forschungsstrategien verstanden werden; ersetzen kann es sie allein schon aufgrund des hohen Zeitaufwands einer minutiösen Textanalyse nicht; und gewiß nicht alle Fragestellungen der genannten Forschungsgebiete sind narrativ erfaßbar.

Durch die Rezeption des Erzählansatzes in der Psychologie könnte sich auch wieder der eher spärliche Dialog mit anderen Diszplinen der Geisteswissenschaften erweitern: den Menschen als Erzähler in seiner sozialen Eingebundenheit zu verstehen, böte die Möglichkeit, in den Diskurs mit den Fragestellungen anderer Kulturwissenschaften zu treten. Es ist schwer einzusehen, warum ausgerechnet die Psychologie auf das »Anthropologikum Erzählen«, wie Marquard (1981) es nennt, als eigenständige Erkenntnisquelle, als Gegenstand und als Methode verzichten sollte.

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