Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99

Teil 3: "Seelisches Erleben bei MS" von Sigrid Arnade

2. Verhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen

Nun möchte ich auf ein Thema eingehen, das in meinen bisherigen Ausführungen bereits anklang und das für MS-Betroffene nach meiner Erfahrung von großer Bedeutung ist: Das Verhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen. Dieses beginnt bekanntlich in der Diagnosephase, welche im günstigen Fall in einer einfühlsamen Diagnosemitteilung gipfelt. Leider ist das nach wie vor viel zu selten der Fall.

Mir selbst erging es so, daß der Neurologe mir zu meiner Diagnose gratulierte, ehe er sagte, es sei MS. Ich war in seine Praxis gekommen und wollte zwei Monate nach den diagnostischen Maßnahmen endlich wissen, was los war. Nach der Liquorpunktion im Krankenhaus war mir schon durch einen kurzen Zuruf mitgeteilt worden, daß es vermutlich MS sei, aber 100prozentig wußte ich noch nicht Bescheid. Nun die Gratulation. Mein Herz tat einen Sprung. Erstmals, seit ich drei Monate zuvor von einem anderen Arzt mit der Verdachtsdiagnose MS konfrontiert worden war, keimte so etwas wie Hoffnung. Und dann kam nach der Gratulation der zweite Satz: »Es ist MS«. Die Gratulation galt nicht mir, sondern seiner eigenen inneren Verdachtsdiagnose, die er mir allerdings nie mitgeteilt hatte. Ich verlor den Boden unter den Füßen und werde dieses traumatische Erlebnis, das jetzt bereits über 15 Jahre zurückliegt, wohl nie vergessen.

Die Reihe von Horrorgeschichten, die die Diagnose-Mitteilung betreffen, ist lang und ließe sich endlos fortsetzen. Dem einen wird erzählt, er habe Enzephalomyelitis disseminata und das sei etwas völlig anderes als MS, die andere wird ohne Diagnosemitteilung in eine MS-Klinik geschickt, wo sie durch Gespräche mit anderen Betroffenen der Wahrheit auf die Spur kommt. Der Dritte erfährt 25 Jahre lang gar nichts. Nur seine Frau ist eingeweiht mit der dringlichen Ermahnung, sie dürfe ihrem Mann nichts sagen. Über dieses Geheimnis, verbunden mit zunehmendem Vertrauensverlust, zerbricht die Beziehung der Eheleute.

Zahlreiche Untersuchungen haben bereits belegt, daß die Mehrheit der Betroffenen die Wahrheit zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt wissen möchte. Als wirklich zermürbend beschreiben viele die Zeit der Ungewißheit. Ist aber die Wahrheit erst einmal bekannt, kann man beginnen, mit der neuen Situation umzugehen und Bewältigungsformen zu entwickeln.

Zur Scheu vieler ÄrztInnen, die Betroffenen mit der vollen Wahrheit zu konfrontieren, schreibt der MS-betroffene englische Arzt Alexander Burnfield: »Manche Ärzte meinen, daß es nicht immer im Interesse des MS-Patienten liege, die Wahrheit zu einem recht frühen Zeitpunkt zu erfahren oder die Wahrheit überhaupt jemals zu erfahren. Sie argumentieren damit, daß es des Arztes vordringlichste Aufgabe sei, Leiden zu vermindern und daß die Mitteilung der Wahrheit eher zu unnötigen Ängsten als zum Seelenfrieden führe. Sie weisen darauf hin, daß ein Patient, der sich in einem frühen Stadium der Krankheit befindet und erst zwei oder drei MS-Symptome gehabt hat, unter Umständen jahrelang oder zeit seines Lebens ohne weitere Krankheitszeichen leben könne. Das Verheimlichen der möglichen Folgen wird auch damit gerechtfertigt, daß es unmöglich sei, die Zukunft mit Sicherheit vorauszusagen und daß die Patienten nicht dazu fähig wären, die damit verbundene Komplexität zu verstehen. Wenn man nicht weiß, ob ein Patient wirklich der Wahrheit ins Auge sehen will, ist man aus gutem Grund unsicher, wieviel man erzählen soll. Allerdings wird zuweilen mit diesen Argumenten eine Unehrlichkeit gerechtfertigt, deren Grund in dem Mißbehagen des Arztes liegt, das er bei der Besprechung emotional schmerzlicher Themen empfindet. Die unbewußte Angst des Arztes könnte eher die wirkliche Ursache der Unehrlichkeit sein als die echte Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des Patienten.« Soweit Alexander Burnfield.

Nach meiner Erfahrung kann eine wenig einfühlsame Diagnosemitteilung zu einer doppelten Traumatisierung führen, zum einen durch die Konfrontation mit einer unheilbaren Krankheit, zum anderen durch die Erfahrung, alleine gelassen zu werden und durch das damit vermittelte Gefühl, eine Zumutung für andere Menschen bzw. nicht zumutbar zu sein. Die Abwehr, die der Arzt oder die Ärztin lebt, überträgt sich oft zunächst auf die Betroffenen und macht es ihnen umso schwerer, die Realität der Krankheit anzunehmen und sie ins Leben zu integrieren.

Das Verhältnis zwischen ÄrztInnen und Betroffenen gilt es aber auch nach der Phase der Diagnosefindung zu gestalten. Dazu sagt der Kieler Neurologe Hans Strenge: »Die besondere Voraussetzung auf seiten des Arztes ist die uneingeschränkte Bereitschaft, sich auf die Ungewißheit dieses Kontaktes, auf die Ungewißheit des weiteren Verlaufs des Erkrankung, bewußt miteinzulassen (...) Der Patient darf ohne Hemmungen mit oder ohne neuen neurologischen Symptomen Zeit für sich in Anspruch nehmen; er kann, ohne Nachteil befürchten zu müssen, eigene Krankheitstheorien offen zur Diskussion stellen, Hoffnungen bezüglich alternativer Behandlungsversuche ohne Hemmungen äußern, und er braucht auch keine zusätzlichen Energien zu mobilisieren für eine doppelte Buchführung im Arztkontakt.«

Strenge liefert hier vielleicht eine Idealbeschreibung. Ich glaube, viele Betroffene wären schon froh, wenn ihre ÄrztInnen nur einige der genannten Kriterien erfüllten. Wichtig ist es sicherlich, daß das Verhältnis zwischen ÄrztInnen und Betroffenen individuell ohne Vorurteile gestaltet wird. Ein verbreitetes Vorurteil lautet zum Beispiel, MS-Betroffene seien nicht arbeitsfähig und möglichst frühzeitig zu berenten. Sicherlich ist es für viele MS-Betroffene ein Segen, wenn sie sich nicht länger dem normalen Arbeitsstreß aussetzen müssen, und ich kenne durchaus Betroffene, denen eine frühzeitige Berentung gut getan hat. Das kann man aber nicht pauschalisieren. Für andere Betroffene stellt die Arbeit einen wesentlichen Lebensinhalt dar, aus dem sie Bestätigung und Zufriedenheit beziehen. Dann ist es eher eine Katastrophe, diese Menschen in eine vorzeitige Berentung zu drängen. Von voreiligen und zu pauschalisierenden Berentungen wird auch in wissenschaftlichen Arbeiten gesprochen (Ritter, G. 1984; Buechl, S. et. al. 1989).

Einer Studie aus dem Jahr 1988 zufolge wünschen sich die Betroffenen die ÄrztInnen nicht autoritär und bevormundend, sondern als PartnerInnen, von denen sie als vollwertige Menschen akzeptiert werden (von Claer, S. et. al. 1988). Diese Wünsche der Betroffenen werden neuerdings in Amsterdam berücksichtigt: Dort ist der freundliche Umgang mit den Patientinnen und Patienten Voraussetzung für angehende ÄrztInnen, zum Examen zugelassen zu werden. Die jungen MedizinerInnen sollen nicht nur freundlich sein, sondern auch die gewünschten Auskünfte geben und die Meinung der PatientInnen akzeptieren (Frankfurter Rundschau 23. September 1998).

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