Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99

Teil 4: "Seelisches Erleben bei MS" von Sigrid Arnade

3. Stiftung LEBENSNERV und psychosomatische Modelle

Nun komme ich zum dritten Teil meines Referates und möchte Ihnen die Stiftung LEBENSNERV und einige Hypothesen zu psychosomatischen Zusammenhängen bei multipler Sklerose vorstellen. Der Ansatz der Stiftung LEBENSNERV geht über den Coping-Ansatz hinaus. Wir sind natürlich auch der Meinung, daß es für die Betroffenen vorteilhaft ist, wenn es ihnen gelingt, die Krankheit MS in ihr Leben zu integrieren. Deshalb raten wir den Betroffenen durchaus dazu, sich von Fachleuten unterstützen zu lassen.

Wir sind aber darüber hinaus der Ansicht, daß es kein Zufall ist und auch nicht nur von genetischen Faktoren oder Virusinfektionen in der Kindheit abhängig ist, ob jemand MS bekommt und daß es auch kein Zufall ist, welche Symptome die Betroffenen unter welchen Lebensumständen bekommen.

Wir glauben nicht, daß MS eine rein psychosomatische Erkrankung ist, sind aber der Meinung, daß seelische Faktoren von den meisten Neurologinnen und Neurologen sowie in der wissenschaftlichen Literatur zu wenig berücksichtigt werden. Niemand kennt die genaue Ursache von MS, auch wenn es zu allen Zeiten Theorien gegeben hat. Ich glaube, daß ein multifaktorielles Geschehen der Krankheit zugrunde liegt, an dem genetische Faktoren, vielleicht auch eine Infektion beteiligt sind. In jedem Fall spielt, wie bei jeder anderen Erkrankung auch (ich glaube, beim Schnupfen bestreitet das heute niemand mehr) die seelische Befindlichkeit der Betroffenen eine Rolle.

In welchem Ausmaß dieser seelische Faktor an der Krankheitsentstehung oder der Schubauslösung beteiligt ist, kann niemand sagen. Auf alle Fälle gibt es da einen Faktor, und er wird unserer Meinung nach viel zu wenig beachtet. Deshalb haben Susanne Same und ich 1991 die Stiftung LEBENSNERV gegründet. Wir können von den Stiftungsmitteln, die wir gestiftet haben, zwar keine Forschung finanzieren, aber wir setzen alle zwei Jahre einen Forschungspreis aus, um DiplomandInnen und DoktorandInnen anzuregen, sich mit der seelischen Seite der MS zu beschäftigen. Außerdem geben wir halbjährlich eine kleine Zeitschrift mit dem Titel FORUM PSYCHOSOMATIK heraus. Wir verstehen uns als Vernetzungs- und Koordinierungsstelle für alle Initiativen, die sich um eine ganzheitliche Betrachtung der MS bemühen.

Im folgenden möchte ich Ihnen einige psychosomatische, also ganzheitliche, die körperliche und seelische Ebene einbeziehende Erklärungsversuche vorstellen. Dabei werde ich chronologisch vorgehen.

Beginnen möchte ich mit dem Österreicher Jonas, der 1983 die These aufstellte, MS sei als eine Art schleichender Selbstmord zu betrachten: Er zieht Parallelen zu einigen Tierarten, bei denen normalerweise friedlich im Darm lebende Parasiten aktiviert werden, wenn sie bei Rangkämpfen unterliegen. Die Tiere sterben dann. Vergleichbare Mechanismen vermutet Jonas bei MS-Betroffenen. Aufgrund traumatischer Erlebnisse habe der Mensch resigniert und sei von Hoffnungslosigkeit geprägt. Das könne sich in Depressionen äußern, oder quasi alternativ als Autoaggression, als Selbstelimination. Eine vergleichbare Theorie gab es übrigens bereits Anfang des Jahrhunderts in den zwanziger Jahren: Der Psychoanalytiker Jeliffe stellte 1921 die Theorie auf, daß die Betroffenen unter solch starken Spannungen stünden, daß es zu einer Psychose kommen müsse oder quasi alternativ zu einer anderen Erkrankung des ZNS wie MS.

Der Psychosomatiker Büntig sagte 1985 über MS-Betroffene: »Sie stellen einerseits sehr hohe Ansprüche an sich selbst, doch fehlt ihnen die Energie, diesen Anspruch auch zu erfüllen.« Er beschreibt MS-Betroffene als fast durchweg vom Verstand geleitet, Meister im Verbergen von Emotionen. Deshalb ist Büntig überzeugt, MS sei eine Degenerationserscheinung, »die sich als Erschöpfung der Markscheide ausdrückt.«

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