Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99

Teil 5 (letzter Teil): "Seelisches Erleben bei MS" von Sigrid Arnade

Nach der Theorie von Sattmann-Frese von 1989 verhilft die MS den Betroffenen dazu, Anteile zu leben, die die Betroffenen sonst nicht leben würden. Er beschreibt Beispiele: Ein Kind beschließt (natürlich unbewußt) aufgrund schlechter Erfahrungen, »nie wieder bedürftig, nie wieder von anderen abhängig zu sein«. Durch die MS wird der Mensch unfreiwillig abhängig, so daß der Körper das entstehen läßt, was der Mensch benötigt. Das Bedürfnis nach Abhängigkeit, nach Umsorgtwerden kann nun gelebt werden.

Sattmann-Frese vertritt die Ansicht, daß man die Symptome überflüssig machen kann, wenn man lernt, sie zu verstehen und ihre Botschaft zu integrieren, also beispielsweise lernt, ein gesundes Mittelmaß zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu finden. Dazu sei meistens professionelle psychotherapeutische Unterstützung notwendig. Bei alledem dürfe die medizinische Behandlung nicht zu kurz kommen.

Debets, ein niederländischer MS-betroffener Arzt, veröffentlichte 1991 seine Arbeitshypothese. Er geht davon aus, daß traumatische Erfahrungen in frühen Entwicklungsphasen, eventuell noch in der Gebärmutter als Ungeborenes, dazu führen, daß Impulse blockiert werden. Dadurch käme es zu einer Anhäufung von Überträgerstoffen im Nervensystem. Diese Abfallstoffe müßten durch das Immunsystem beseitigt werden, welches also aktiviert würde. Irgendwann könne bei ständiger Wiederholung das Gleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten werden, und die Abwehrreaktion richte sich dann gegen das eigene Nervensystem.

In ihrer Arbeit von 1995 hat Bettina Sonnack - sie ist eine der bisherigen Preisträgerinnen der Stiftung - die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Krankheitsverarbeitung untersucht. Bekannt ist, daß MS doppelt so häufig bei Frauen auftritt wie bei Männern. Kaum jemand hat sich aber bislang um geschlechtsspezifischen Unterschiede gekümmert. Bettina Sonnack fand heraus, daß Frauen nicht nur häufiger erkranken als Männer, sondern auch früher und daß sie die besseren Krankheitsverläufe haben. Weiter stellte sie große Unterschiede in den Auswirkungen der Erkrankung an MS auf die Identität fest: Für 91 Prozent der Frauen kam es durch oder nach der Erkrankung zu einem Identitätsgewinn. Dasselbe traf nur auf 57 Prozent der Männer zu. Umgekehrt führte die Erkrankung nur bei neun Prozent der Frauen zu einer Identitätsbedrohung, während dies für 43 Prozent der Männer galt.

Zwischen 1993 und 1995 traf sich, initiiert von der Stiftung LEBENSNERV etwa zweimal jährlich eine Arbeitsgruppe mit neurologischen und psychologischen Fachleuten, die sich mit der Stiftungsthematik beschäftigten. Die Gruppe war recht heterogen zusammengesetzt. Trotzdem kristallisierte sich zur psychosomatischen Bedeutung der MS eine gemeinsame Basis heraus: MS wurde von allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe als - zugegebenermaßen unglücklicher - Lösungsversuch eines seelischen Konfliktes auf der körperlichen Ebene gesehen.

Weniger die allgemeinen psycho-sozialen oder medizinischen Probleme, sondern vielmehr die individuell-subjektive Ausgestaltung eines Lebens mit MS haben die Autorinnen einer im Herbst 1997 von der Stiftung ausgezeichneten Arbeit betrachtet. Am Beispiel von drei Frauen und zwei Männern zeigten sie, daß die Betroffenen vor dem Hintergrund ihrer Biographie der Krankheit »Sinn« verleihen. Somit bestimmen ihrer Ansicht nach biographische Entwicklungsbedingungen und -verläufe die Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewältigung der MS. Dieser neue Blickwinkel kann dazu beitragen, die Betroffenen besser zu verstehen, meinen die Autorinnen.

Meine persönliche Theorie ist überhaupt nicht wissenschaftlich fundiert und sehr einfach: Ich könnte mir vorstellen, daß es bei jedem Menschen einen Schwachpunkt oder eine Sollbruchstelle gibt, die je nach Konstitution, genetischen Voraussetzungen, Ernährung und Lebensweise unterschiedlich sein kann. Kommt dann viel unguter Streß hinzu, dann bekommt der eine MS, die andere Krebs oder Diabetes. Ob es so oder anders ist, sei dahingestellt. Durch viele Gespräche mit anderen Betroffenen und meine eigenen Erfahrungen bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß es eben kein Zufall ist, wer wann welche Symptome bekommt.

Beispielsweise erzählte mir ein Einzelhandelskaufmann, daß er immer in der Vorweihnachtszeit, wenn in seinem Geschäft die Hölle los war, Schübe bekommen hat, die ihn vorübergehend arbeitsunfähig machten. Das machte für ihn Sinn. Ich selber weiß, daß mir Arbeitsstreß nichts ausmacht, hingegen reagiere ich mit meiner MS empfindlich auf jede Art von Beziehungsstreß, egal ob es sich um meinen Lebenspartner, die Familie oder gute Freundinnen handelt.

Wenn ich weiß, was mir schadet, weiß ich auch, was mir guttut. Natürlich kann niemand sich sein Leben so einrichten, daß es ihm oder ihr ständig super geht. Aber wenn man um die gefährlichen Momente weiß, kann man sich im Zweifel Unterstützung holen.

Um die Krankheit besser zu verstehen und besser mit ihr umgehen zu können, halte ich viel davon, nach der Bedeutung der Symptome für den einzelnen Betroffenen zu fragen. Dabei finde ich zwei Fragen wichtig: Zum einen: Was will gerade dieses Symptom mir sagen? Oft wird man keine Antwort finden. Aber manchmal ist es auffällig, welche Symptome zu welcher Zeit mit welchen Lebensumständen auftreten. Zumindest im nachhinein habe ich schon oft Erklärungen gefunden. Die meiner Ansicht nach zweite wichtige Frage in diesem Zusammenhang lautet: Welche Vorteile habe ich eventuell durch dieses Symptom? Was ermöglicht es mir, was ich sonst nicht bekomme? Ich will damit nicht sagen, daß diese Erkrankung toll oder erstrebenswert ist, geschweige denn, daß irgend jemand sie bewußt herbeigeführt hat und selbst Schuld ist. Ich meine einfach, daß diese Frage helfen kann, das Symptom zu verstehen und eventuell überflüssig zu machen. Wobei ich nicht - wie Sattmann-Frese - der Ansicht bin, daß alle Symptome verschwinden, wenn man sie versteht. Ich glaube vielmehr, daß es auch irreversible Schäden des ZNS gibt. Aber wer weiß?

Unabhängig von allen Erklärungsmodellen halte ich es für wichtig, bei sich selbst genau hinzugucken, was hilft, was hilft nicht, was brauche ich, wie bekomme ich es, was erhöht meine Lebensfreude und -zufriedenheit? Ich bin davon überzeugt, daß in jedem Menschen große Potentiale von Selbstheilungskräften schlummern, die es zu aktivieren gilt. Die Selbstheilungskräfte sind ja selbst den hartgesottensten Schulmedizinern bekannt. Leider sprechen diese etwas abfällig vom Placeboeffekt. Das sind signifikante Besserungen, obwohl die jeweilige Person kein Medikament, sondern irgendeine wirkungslose Substanz bekommen hat. Die Besserungen traten auf, weil sie glaubte, ein wirksames Medikament zu bekommen, oder weil sie im Versuch gut betreut wurde oder was auch immer. Auf alle Fälle wurden Selbstheilungskräfte mobilisiert. Und daran sollte meiner Ansicht nach viel intensiver gearbeitet werden.

Wenn die Betroffenen dahin kommen, selber Verantwortung im Umgang mit ihrer Erkrankung an MS zu übernehmen, geht es ihnen nach meiner Erfahrung zumindest seelisch besser, weil sie sich nicht mehr so ausgeliefert und hilflos fühlen. Das sollte allerdings ohne Allmachtsphantasien und den Druck geschehen, unbedingt alles unter Kontrolle und im Griff haben zu müssen, denn sonst ist der nächste Frust vorprogrammiert.

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