Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00

Teil 2: "Was ist dran an den psychosomatischen Krankheitserklärungen MS-Betroffener?" von Hedwig Rosa Griesehop

Was ist dran an den psychosomatischen Krankheitserklärungen der Betroffenen? Welcher Stellenwert kann ihnen beigemessen werden?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich muss zunächst etwas weiter ausholen. Vorweg:
Die exakte Diagnose MS ist in erster Linie ein pathologisches Substrat. Der diagnostische Prozess konzentriert sich auf messbare, sichtbare - d.h. beweisbare Fakten.

Diagnosen und ätiologische Ansätze (Ätiologie = die Lehre von den Krankheitsursachen) sind Erkenntnisbilder vorherrschender wissenschaftlicher Ordnungen, sei es der naturwissenschaftlichen, der psychosomatischen Medizin.

Ich komme zurück zum Fallbeispiel. Objektiv betrachtet, ist nicht von der Hand zu weisen, dass permanenter Stress einen gesundheitsschädigenden Faktor darstellt. Aber inwieweit dieser Stress als ursächlich verantwortlich für die MS gelten kann, das lässt sich nicht eindeutig belegen. Die Annahme: "Bestätigen könnte ich als Ursache für die Krankheit den Stressfaktor, der in der Kindheit permanent vorhanden war." ist in allererster Linie die Sichtweise einer Betroffenen, ihre persönliche Erklärung, das heißt im weitesten Sinne ihre subjektive Krankheitserklärung - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im Prinzip kommt hier ihre eigene individuelle Ordnung zum Tragen.

Ich komme zurück zum Beispiel:
"Bestätigen könnte ich als Ursache für die Krankheit den Stressfaktor, der in der Kindheit permanent vorhanden war."

Vielleicht denken Sie - genau, das stimmt! Ich kann damit was anfangen, ich kann mich darin auch wiederfinden! Oder aber - das sehe ich ganz anders - für mich hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.

Vielleicht sind Sie auch neugierig geworden und wollen wissen, wer diese Frau ist. Welche Erinnerungen tauchen auf? Welche Ereignisse spielen rückblickend eine Rolle?

Ihr Name ist Petra Berg. Es ist nicht ihr wirklicher Name. Ich lerne sie bei einem Wochenendseminar kennen. Ihre Autobiographie stelle ich in sehr gekürzter Form, zum Teil mit Zitaten dar. Ich habe ihre Erlaubnis dazu eingeholt.

Ich gehe davon aus, dass die Frau glaubt, was sie sagt und dass sie die Expertin ihrer MS-Erkrankung ist. Ich möchte Ihnen kurz und knapp darstellen, worauf ihre psychosomatische Sichtweise basiert.

Frau Berg ist 48 Jahre alt.
"wie alles begann - " so fängt sie an zu erzählen. Ursprünglich sollte sie ein Junge werden - der ersehnte Erbe, das heißt, ihre Geburt war für die Familie eine Enttäuschung.

Zitat Frau Berg: "Von Anfang an hatte ich das Gefühl, nicht richtig zu sein, und vor allen Dingen war ich nicht gewollt."
Sie ist sehr oft krank - zum Beispiel als sie 3 Jahre alt ist, kommt sie mit quälenden Bauchschmerzen ins Krankenhaus. Dort angekommen verschwinden die Bauchschmerzen wie von Geisterhand.

Als Teenager erlebt Frau Berg, wie ihre Eltern dem Alkohol immer mehr zusprechen - sie schaut zu. Zitat: "Ich schluckte alles, was mich bedrückte hinunter."

Mit 16 Jahren lernt sie einen Mann kennen. Die Einwilligung der Mutter, sich die Pille verschreiben zu lassen, wird ihr versagt. So passiert es, dass sie mit 16 Jahren schwanger wird und auf Anraten der Mutter abtreiben lässt. Kurze Zeit nach dem Eingriff bekommt sie Pfeiffersches Drüsenfieber. Die Pille ist nach wie vor tabu, und mit 17 Jahren ist Frau Berg erneut schwanger. Als Folge der schweren Vorwürfe des Vaters erleidet Petra Berg einen psychischen Zusammenbruch.

Mit 17 Jahren heiratet sie, der Sohn kommt zur Welt. Die Jahre danach war sie oft krank: Ohrenentzündungen, Halsentzündungen, Nierenentzündungen, Eileiterentzündungen und Magenschleimhautentzündungen wechselten sich ab.

Mit 25 Jahren wird sie erneut schwanger - ein Wunschkind. Sie bekommt Röteln und muss die Schwangerschaft zu ihrem Leidwesen abbrechen lassen.

Bis zum 30. Lebensjahr kommen weitere Erkrankungen hinzu: Gelenkrheuma, Gehirnerschütterung, Mittelohrentzündungen, Bronchitis, Entfernen der Mandeln.

Mit 31 Jahren eine Sehnerventzündung. Nebenher - im Laufe der Jahre hat sie sich weitergebildet. Tagsüber berufstätig, abends den Realschulabschluss nachholen, dann für das Kind da sein, Abitur nachmachen und studieren. Nebenbei mit dem Ehemann sich selbständig machen und so weiter. Sich und anderen beweisen, was sie kann und dass sie gut genug ist, so bringt sie ihre Lebenseinstellung auf den Punkt.

Zitat: "Auf meinen Körper hörte ich schon lange nicht mehr. Die Rheumaschmerzen quälten mich zwar, aber ich wollte sie stets nur als Bagatelle ignorieren."

Während des Studiums spezialisiert sie sich, und als das Studium beendet ist und sie mit Erfolg abschließt und beim ersten Vorstellungsgespräch einen Job angeboten bekommt, scheint sie am Ziel ihrer Wünsche. Daraus wird nichts.

Die Diagnose MS wird gestellt. Auf sich selbst zurückgeworfen, setzt sie sich mit sich, mit ihrer Geschichte und mit ihrer Erkrankung auseinander. Zitat: "Ich dachte darüber nach, warum ich MS bekommen hatte, das heißt, ich forschte nach dem Sinn meiner Krankheit."

Frau Berg schließt ihre Autobiographie mit folgender Erkenntnis:
Zitat: " Das Wichtigste ist für mich die Tatsache, mich endlich zu lieben, wie ich bin. Heute gelingt es mir, meine Schwächen zu erkennen und dazu zu stehen. Wie gefährlich meine Erwartungshaltung für mich war, weiß ich nun genau."

Der "rote Faden" ihrer Geschichte lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

voriger Teil (1) ** nächster Teil (3)
voriger Artikel ** nächster Artikel
Inhalt von FP 2/00 ** FP-Gesamtübersicht
Startseite