Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00 |
Teil 3: "Was ist dran an den psychosomatischen Krankheitserklärungen MS-Betroffener?" von Hedwig Rosa Griesehop
Was ist also dran an der psychosomatischen Krankheitserklärung?
Welcher Stellenwert kann ihr beigemessen werden?
Ob subjektive
psychosomatische Krankheitserklärungen wirklich nur laienhaftes Wissen
darstellen oder ob die Betroffenen im Einzelfall tatsächlich Recht haben
und die Ursache ihrer MS kennen, - da scheiden sich die Geister.
Von daher
schlage ich vor, einen erweiterten psychosomatischen Blickwinkel einzunehmen.
Entscheidend ist, dass nicht die Krankheit als solche, sondern der
erkrankte Mensch mit seinem biographischen Hintergrund zum Vorschein kommt.
Subjektive Krankheitserklärungen sind demnach Ergebnis eigener
Auseinandersetzung und Ergebnissicherung. Sie bringen den Suchprozess, das
heißt, die Suche nach dem Sinn der MS auf den Punkt. Und zwar insofern,
als dass Krankheit auf einen Menschen mit Geschichte trifft.
Die im
Fallbeispiel vorgetragene Konstellation bezieht sich wesentlich auf den
lebensgeschichtlichen Zusammenhang, der permanente Stress beginnt bereits in
der Kindheit. Wenn ich bei der rein pathogenetisch-kausalen Relevanz zur
Entstehung der MS stehen bleiben würde, das heißt, biographische
Konstellationen als (Teil-)Ursache definieren wollen würde, dann wäre
ich jetzt am Ende meines Vortrages angelangt - aber das bin ich noch nicht
ganz.
Wichtig ist mir an dieser Stelle noch mal zu betonen, dass es dahin
gestellt sein mag, ob die subjektiven psychosomatischen
Krankheitserklärungen richtig oder falsch sind.
Für Petra
Berg hatte die MS Aufforderungscharakter insofern, als dass sie sich mit sich
selbst, mit ihrer Geschichte auseinander gesetzt hat und den "roten Faden"
ihres Lebens gesucht und geknüpft hat.
Wichtig ist, dass Petra
Berg einen Ursache-Wirkungszusammenhang herstellt, der lebensgeschichtlich
herleitbar ist. Im Erzählen verknüpft sie die MS mit
lebensgeschichtlichen Erfahrungen - sie bilden eine Einheit.
Die
Erlebnisse, die Erfahrungen, die Wahrnehmungen, der Krankheitsverlauf, alles
gehört genau genommen zum Wesen ihrer MS-Erkrankung. Ihre subjektive
psychosomatische Krankheitserklärung rückt in den Vordergrund und
interpretiert das pathologische Geschehen und ergänzt es. Die Krankheit
ist demnach Ausdruck ihrer Geschichte.
In ihrer autobiographischen
Darstellung wird deutlich, dass die Brüche, die Übergänge, die
Krisen und Wandlungen bedeutsam sind. Krankheit spielt in ihrer Erinnerung
schon immer eine Rolle, sie taucht als Reaktion auf die Lebensumstände
auf. Krankheit ist Teil ihrer Geschichte. Demnach ist es auch sehr
verständlich, dass sie eine psychosomatische Sichtweise zur Ursachen- und
Beeinflussbarkeitsvorstellung der MS hat.
Sich selbst im
Krankheitsgeschehen wiederzuerkennen und darüber hinaus eine Perspektive
zu entwickeln, auf die sich ihr Gesundungsprozess richtet, ist wesentlich.
Zitat: " Das Wichtigste ist für mich die Tatsache, mich endlich
zu lieben, wie ich bin. Heute gelingt es mir, meine Schwächen zu erkennen
und dazu zu stehen. Wie gefährlich meine Erwartungshaltung für mich
war, weiß ich nun genau." - Gesund-Werden versteht sich hier in dem
Sinne, als dass die Krankheit als biographische Herausforderung begriffen wird.
Der angestrebte Gesundungsprozess weist über das "Vergangene" hinaus. Frau
Berg hat für sich einen Weg gefunden, mit der MS sinnvoll zu leben.
Ob ihre psychosomatische Krankheitserklärung stimmt oder nicht, ob
die MS ursächlich wirklich so entstanden ist oder nicht, das spielt
letztlich nicht die entscheidende Rolle. Ihre psychosomatische
Betrachtungsweise ist ein geeigneter Versuch, komplexe biopsychosoziale
Zusammenhänge in der Entstehung der MS beziehungsweise der
Aufrechterhaltung von Gesundheit zu berücksichtigen. Konkret bedeutet es,
dass ihr Verhältnis zur Krankheit und zum Gesund-Werden wichtig ist.
Gesundheit sollte hier nicht missverstanden werden - es geht dabei nicht um das
Frei-Sein von Krankheit, vielmehr um einen Zustand des Wohlbefindens.
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