Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/97

Subjektive Krankheitstheorien bei Multipler Sklerose

von H.-Günter Heiden und Sigrid Arnade

Teil 1 von 8 Teilen

Übersicht

Teil 1   Einleitung
Teil 2 Herr A.:
- Vater und ich - Gleichgültigkeit
Teil 3 - Mutter und ich - Verwöhnung
- Familienklima
Teil 4 - Die eigene Krankheit verstehen
Teil 5 - Ausblick
Teil 6 Frau B.
Frau C.
Teil 7 Frau D.
Frau E.
Teil 8 Herr F.
Auszug aus Khalil Gibran »Der Prophet«

 


Einleitung

„Mit meiner MS bin ich endlich vollständig“ – „Die Krankheit war die positive Wende in meinem Leben“ – „Die MS gibt mir die Möglichkeit, so zu sein wie ich bin“. Eine ungewöhnliche Sichtweise ihrer Erkrankung spiegeln diese drei subjektiven Aussagen von MS-Betroffenen.

Ungewöhnlich deshalb, da sie mit den herkömmlichen Vorstellungen dieser Krankheit nicht konform gehen, und nach wissenschaftlichen Untersuchungen die meisten MS-Betroffenen ein anderes Verhältnis zu ihrer Krankheit haben. So berichtet Muthny (1992) in einer Studie über „Laienätiologie und Krankheitsverarbeitung“ daß MS-Betroffene für ihre Erkrankung am häufigsten die Vererbung, dann Alltagsstreß, drittens hohe Selbstansprüche, viertens berufliche Belastungen und erst an letzter Stelle seelische Belastungen verantwortlich machen. Außerdem geben MS-PatientInnen hohe Depressionswerte und niedrige Lebenszufriedenheit an. Wenn also die subjektive Sichtweise einer (nicht veränderbaren) Vererbung zugrunde liegt, und das Modell einer „depressiven Verarbeitung“ der Erkrankung die Regel ist, so liegt der Schluß nahe, daß diese Sichtweise eine konstruktive Lebensgestaltung mit der MS erschwert.

Doch zunehmend beschäftigen sich betroffene und nichtbetroffene ExpertInnen mit einer ganzheitlichen Sichtweise, die über den reinen symptomorientierten Zugang zur MS hinausgeht: „Krankhafte Prozesse sind kreative Versuche des psychophysischen Organismus, mit Belastungen durch die physische und psychosoziale Umgebung umzugehen“, schreiben Uexküll/Wesiack (1996). Dies bedeutet nichts anderes, als daß der Organismus (meist unbewußt) sinnvolle Problemlösungsstrategien verfolgt, die ihm bei einer Belastungssituation wieder zu einem „Gleichgewicht“ oder zu einer „Vollständigkeit“ im weitesten Sinne verhelfen.

Dies schließt auch die Paradoxie mit ein, daß ein solches „Gleichgewicht“ die Existenz einer Autoimmun-Krankheit wie MS und damit massive Beeinträchtigungen beinhalten kann. Bei einer solchen Betrachtung von MS als „Lösungsversuch“ könnte nun manche/r auf die Idee kommen, dies bedeute, daß man oder frau „selbst schuld“ sei. Das ist natürlich nicht der Fall, denn niemand hat sich bewußt, also schuldhaft die Krankheit MS erschaffen. Ganz im Gegenteil ist es bedauerlich, daß dem Organismus keine andere Lösung „einfiel“ als diese selbstzerstörerische Krankheit. Man/frau hat also keine „Schuld“, dennoch trägt jede/r die „Verantwortung“ dafür, wie er oder sie sich mit der Bedeutung der Krankheit auseinandersetzt. Dies gilt auch und gerade für die Kooperation mit medizinischem und psychotherapeutischem Fachpersonal, denn „der diagnostische Prozeß beginnt mit der Selbstinterpretation des Kranken (=subjektive Krankheitstheorie) und der Inanspruchnahme des Arztes“, wie Uexküll/Wesiack (1996) betonen.

Bereits in der letzten Ausgabe von FORUM PSCHOSOMATIK hat Hanses am Beispiel der Epilepsie dargelegt, „daß die subjektiven Sichtweisen und Bedeutungszuweisungen gegenüber der eigenen gesundheitlichen Situation eine entscheidende Wichtigkeit für den Verlauf der Erkrankungs- und Gesundungsprozesse haben“ (FP 1/97, S.18). Neuere Ergebnisse aus der Copingforschung (coping=Bewältigungsstrategien) belegen in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der „privaten Selbstaufmerksamkeit“, d.h. der Tendenz, die Aufmerksamkeit stark auf die eigenen Gefühle und Körperempfindungen zu richten. In einer Studie von Suls und Fletcher (zit. nach Filipp/Aymanns 1996) zeigte sich, „daß die Ausbildung psychosomatischer Symptome nach der Konfrontation mit belastenden Lebensereignissen nur bei Personen mit geringer Selbstaufmerksamkeit, nicht aber bei Personen mit hoher Selbstaufmerksamkeit zu beobachten war.“

Wenn wir an dieser Stelle dafür plädieren, sich mit der eigenen Bedeutungszuweisung zu beschäftigen, so heißt dies jedoch nicht, daß damit die Symptome zwangsläufig weniger werden. Was aber geschehen kann, sind erste Schritte aus der erlebten Hilflosigkeit und damit aus der Depres-sion. Wir möchten Ihnen deshalb – ohne weiteren Kommentar – in dieser Ausgabe von FORUM PSYCHOSOMATIK sechs unterschiedliche Beispiele subjektiver Bedeutungszuweisung bzw. subjektiver Krankheitstheorien vorstellen.

HGH/Si

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